Dokuserien bei Netflix

Nichts als die Wahrheit?

08:14 Minuten
Der ehemalige Betreiber eines Privatzoos, Joe Exotic, mit einem seiner Tiger.
Joe Exotic alias "Tiger King" mit einem seiner Schützlinge: Die Bezeichnung Reality-TV passe nicht wirklich, meint Patrick Wellinski. © imago images / Cinema Publishers Collection
Patrick Wellinski im Gespräch mit Susanne Burg · 20.06.2020
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Dokumentarserien wie "The Disappearance of Madeleine McCann" erfreuen sich auf Netflix höchster Beliebtheit. Dass diese mit Effekthascherei, Suggestionen und dramatischen Zuspitzungen arbeiten, bemängelt unser Filmkritiker Patrick Wellinski.
Dokumentarische Formate sorgen auf Streamingplattformen immer wieder für große Diskussionen. Auch weil Netflix und Co. gerne heikle Kriminalfälle aufgreifen. Aber welchen Zugang zu den Tatsachen finden die Serien? Taugen sie als Nachrichtenersatz oder sind sie reine Unterhaltung? Susanne Burg spricht darüber mit Filmkritiker Patrick Wellinski.

"Diese Formate sind auf Unterhaltung aus"

Man könnte Serien wie "Tiger King" oder "Jeffrey Epstein: Stinkreich" als Reality-TV bezeichnen und damit in einem Atemzug mit "Love Island" nennen, meint Wellinski. Doch besser passe der Begriff des True-Crime-Entertainment. "Diese Formate sind auf Unterhaltung aus, sie suchen den Grusel und Thrill."
Ein gutes Beispiel hierfür sei die Serie "Epstein: Stinkreich". Die Serie kündigt an, den Fall des verklagten Sexualverbrechers und ehemaligen US-Investmentbankers Jeffrey Epstein gemeinsam mit den Zuschauern aufzudecken, doch es sind letztlich nur die bekannten Fakten, die hier sehr effekthascherisch aneinandergereiht werden.
Problematisch wird es, wenn die ergebnislose Recherche mit Suggestionen angereicht werde, sagt Patrick Wellinski. Zum Beispiel werde Bill Clintons Anwesenheit auf Epsteins "Orgien-Insel" genutzt, um zu suggerieren, Clinton selbst hätte an möglichen Orgien teilgenommen. "Die Serie macht aber nichts, um das zu beweisen, mehr noch: Sie lässt diesen Vorwurf eine Folge lang stehen, um ihn dann am Ende der letzten Folge zu entkräften."
Das seien billige dramaturgische Mittel, die vor allem den berührenden und schockierenden Aussagen der Epstein-Opfer nicht die nötige Aufmerksamkeit schenken, die diese absolut verdient hätten.

Suggerierter Wahrheitsanspruch

Netflix behaupte zwar nicht, diese Serien hätten einen journalistischen Anspruch. Aber sie behaupten auch nicht das Gegenteil. In einer Zeit, in der immer mehr Heranwachsende ausschließlich soziale Medien und Plattformen wie Netflix als Nachrichtenersatz nutzen, führt diese Verzerrung der Wirklichkeit zu Problemen.
"Netflix hat kein Interesse an Aufklärung, Recherche, Journalismus. Netflix ist ein Unternehmen, das Inhalte braucht, um mehr Abonnenten zu generieren, um profitabel zu sein", sagt Wellinski. Besonders krasse Kriminalfälle als Serien aufzuarbeiten, generiere hohe Aufmerksamkeit.
Die Eltern der vermissten Madeleine McCann mit einem rosa Kinder-T-Shirt ihrer Tochter.
Gaben die Hoffnung nie auf: Die Eltern der vermissten Madeleine McCann.© picture alliance / empics / Steve Parsons
Absurderweise gibt es mit "Gerichtsverfahren in den Medien" eine Dokuserie auf Netflix, die genau dies kritisiere. Darin werden Gerichtsprozesse nacherzählt, die durch den Einfluss von Medien manipuliert wurden. Damit kritisiert die Serie indirekt auch andere Inhalte der Plattform.

Verschwörungstheorien ohne Warnhinweise

Netflix und Amazon Prime kuratieren ihre Inhalte nicht, sagt Wellinski, sie stellen sie nur zur Verfügung. Das werde aber heikel, wenn es um krude Verschwörungstheorien geht. Es gebe gerade bei Amazon leichten Zugang zu gefährlichen Dokumentationen, die Verschwörungstheorien verbreiten.
"Da wird die ‚New World Order‘ beschworen, 9/11 geleugnet, die ganzen Impfgegner-Propagandafilme – alles für 3,99 Euro leih- oder kaufbar, ohne jegliche Hinweise oder Markierungen", kritisiert er.
Es stellen sich deshalb viele Fragen: Wie umgehen damit? Kann man Konzerne wie Amazon und Netflix verpflichten, solche Inhalte zu kennzeichnen oder zu löschen? So lange das nicht geklärt sei, müsse man festhalten, dass alle Nutzer viel Medienbildung brauchen, um sich nicht leicht manipulieren lassen.
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