Dokumentation über Billie Holiday

In vollen Zügen

06:47 Minuten
Billie Holiday zusammen mit Bobby Tucker am Klavier.
Gnadenlos grandiose Sängerin: Billie Holiday zusammen mit Bobby Tucker am Klavier. © Prokino/ Getty / Michael Ochs Archives / REP Documentary / Marina Amaral
Von Oliver Schwesig · 11.11.2021
Audio herunterladen
Die Stimme von Billie Holiday ist weltbekannt. Ebenso legendär ist auch ihre Biografie: Alkohol, Drogen und eine lange Liste von Affären prägten ihr Leben. Eine neue Dokumentation widmet sich der Grande Dame des Jazz.
Es brauchte nur eine einzige Begegnung mit Billie Holiday, um Tony Bennett zu beeindrucken: "Ich hab' sie mal in Philadelphia getroffen. Ich war damals noch sehr unbekannt, ein Fan. Und sie hob ihren Rock hoch, zog einen Schein aus ihrer Strumpfhose und sagte: Hol mir mal einen Gin, Kleiner."
Dieser kurze Ton kondensiert gut, was der Film "Billie" in den folgenden 97 Minuten aufzeichnet: das Leben der Sängerin, die für eine schwarze Frau ihrer Zeit ein wahnsinnig außergewöhnliches Leben führte. Luxuriös und selbstbewusst, ein Superstar. Und was war sie alles: Musikbesessen, cool, sexy, aber auch frivol und rätselhaft.
Ausgangspunkt für "Billie" war die Arbeit der amerikanischen Journalistin Linda Lipnack Kuehl, die in den 70ern mit langen Kassetten-Interviews eine Buchbiografie über Billie Holiday vorbereitete. Aus dem Buch wurde nichts und die Kassetten verschwanden. Jetzt sind sie wiederentdeckt und restauriert worden.
125 Stunden Interviews liegen dem Film zugrunde. Die manchmal etwas fetzenhaften O-Töne, oft nur ein paar Worte lang, zeigen ein sehr interessantes, neues Bild der Sängerin. Count Basie, Tony Bennett und viele enge Wegbegleiter liefern aus erster Hand Geschichten über Billie Holiday.

Witzig, masochistisch, endlos traurig

Eine Frau, die das Leben in vollen Zügen gelebt hat, witzig, aber auch mit Hang zum Masochismus und endlos traurig: Als kleines Kind vergewaltigt, als Erwachsene körperlich und finanziell von Männern ausgenutzt. Heroin und Alkohol wurden ihre besten Freunde.
Die größte Stärke der Dokumentation sind aber die sensationellen Farbaufnahmen. Regisseur James Erskine hat Filme ihrer Auftritte nachcolorieren lassen. Auf dem Papier eigentlich ein unnötiger Eingriff in den frühen "Schwarz-Weiß-Jazz", wie wir ihn kennen. Aber bei Billie Holiday in Farbe passiert etwas Erstaunliches: Sie wird noch lebendiger. Der Gesichtsausdruck, die Körperhaltung – man rückt ihr buchstäblich näher.
Und dann ist ja noch die Musik. Nun, über die Musikerin Billie Holiday erfährt man nicht viel Neues in dieser Doku. Jazz-Fans könnten dem Film vorwerfen, dass er zu sehr an der dramatischen Biografie von Holiday hängt.
Ein Schlenker zuviel ist auf jeden Fall die parallel erzählte Geschichte der Journalistin Linda Lipnack Kuehl, die die Kassetten-Interviews einst geführt hatte. Mit der Biografie von Billie Holiday hat das nichts zu tun.
Aber eine Sache gelingt dem Film: Der tiefe Einblick in ihr dramatisches Leben lässt die Songs anders erklingen. Die Trauer in ihrer Stimme bekommt noch mehr Tiefe und Schönheit.

"Billie"
Großbrittannien 2019, 97 Minuten
Regie: James Erskine
Darsteller: Linda Lipnack Kuehl, Billie Holiday, Sylvia Syms
Kinostart: 11.11.2021

Mehr zum Thema