Dokumentation des Unfasslichen

Vorgestellt von Anke Leweke |
"Der Kick" ist die Spielfilmfassung des gleichnamigen Theaterstücks von Andres Veiel. Er schildert den authentischen Mord an einem Jugendlichen durch zwei rechtsradikale Altersgenossen. "In den Süden" reisen drei amerikanische Frauen in den 70er Jahren, genauer nach Haiti, um dort gegen Geld ihre sexuellen Träume auszuleben. Die scheinbare Idylle wird gestört von politischer Gewalt und Eifersucht.
"Der Kick"
Deutschland 2006; Regie: Andres Veiel; Darsteller: Susanne-Marie Wrage, Markus Lerch

Schon in seinem Dokumentarfilm "Blackbox BRD" erwies sich Andres Veiel als beharrlicher Sucher und Stöberer, der ein Ereignis erforscht, indem er die darunter liegenden Geschichten und Geschichtsströme registriert. In seinem Film "Der Kick", der auf dem gleichnamigen, von Veiel und der Dramaturgin Gesine Schmidt geschriebenen Theaterstück beruht, nähert er sich einem Verbrechen, das die deutsche Öffentlichkeit erschütterte: In einer Julinacht des Jahres 2002 brachten drei Jugendliche im brandenburgischen Dorf Potzlow den sechzehnjährigen Marinus Schöbel um, in dem sie ihn stundenlang schlugen, mit Springerstiefeln auf seinen Hinterkopf sprangen und ihm dann den Schädel mit einem Stein zertrümmerten. Die Leiche vergruben sie in einer Jauchegrube.

Aus Gesprächen mit den Täter- und Opferfamilien, Freunden, Nachbarn und Bekannten, aus Vernehmungsprotokollen und anderen Dokumenten rekonstruiert Veiel die Vor-Geschichte(n) des Verbrechens. Indem er alle Äußerungen und Berichte von zwei Schauspielern vortragen lässt, erreicht er einen erstaunlichen Ent-Personalisierungseffekt. Aus dem vielstimmigen Textgeflecht entsteht die Erkenntnis, dass sich in jener Julinacht nicht nur die Biographien von vier Jugendlichen, sondern auch die verdrängten Gewaltgeschichten eines Dorfes überlagerten - vom Zweiten Weltkrieg über die sozialistischen Zwangsenteignungen bis zum Konflikt zwischen Umsiedlern und Einheimischen.

Dabei ist "Der Kick" keine pädagogische Film-Theater-Veranstaltung, sondern die mit ausgefeilter Kamerasprache erzählte, bestürzende Archäologie eines Verbrechens.


"In den Süden"
Frankreich / Kanada 2005; Regie: Laurent Cantet; mit: Charlotte Rampling, Karen Young, Louise Portal, Ménothy Cesar u.a.

<im_34426>In den Süden - Vers le sud (ACHTUNG! NUR IM ZUSAMMENHANG MIT DEM KINOSTART)</im_34426>Haiti in den siebziger Jahren: Alleinreisende Frauen sitzen mit Cocktails am Strand und flirten mit gut aussehenden Einheimischen. Hand in Hand verschwindet ein Pärchen im Ferienbungalow. Doch der romantische Schein erweist sich spätestens am nächsten Morgen als trügerisch, wenn er mit einer Handvoll Dollar aus der Tür tritt.

Sextourismus aus weiblicher Perspektive, das vom Geld bestimmte Verhältnis zwischen Käuferin und Gekauftem und der soziale Background der männlichen Freier in einem von politischen Unruhen erschüttertem Land - Laurent Cantets dritter Spielfilm liefert reichlich dramatisches Potential. Mit einer ruhig beobachtenden Kamera folgt er zunächst den Frauen, zeigt sie beim Flirten, Schmusen, registriert aber auch ihre Arroganz, wenn sie als gönnerhaft Zahlende den Ton angeben.

Leider gibt Cantet dem Zuschauer kaum eine Möglichkeit, sich selbst ein Bild zu machen, stattdessen stellt er modellhafte Typologien auf und zwängt sein an sich spannendes Thema in ein durchscheinend konstruiertes Drehbuch. Charlotte Rampling gibt die coole Amerikanerin, die sich Sex kauft, während die vom Leben verletzte Karen Young vor allem auf der Suche nach Liebe ist. In pseudodokumentarischen Interviews dürfen die Frauen aus ihrem Leben erzählen, mit diesem bequemen Stilmittel gewährt uns Cantet näheren Einblick ins Innenleben seiner Protagonistinnen.

Irgendwann dringen zudem die politischen Ereignisse in die Feriensiedlung, denn einer der Freier wird verfolgt. Doch auch hier hat man das Gefühl, das Laurent Cantet nur einen weiteren Programmpunkt abhakt, nämlich die Verstrickung von Sex und Politik. Trotz guter Schauspielerinnenleistung glaubt man sich die meiste Zeit in einem Film, der einem das kleine ABC des Sextourismus buchstabiert.