Dokumentarfilm: "Tony Conrad – Completely in the Present"

Den Rahmen der Kunst sprengen mit allen Künsten

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Tony Conrad "dirigiert" den Verkehr © Edition Salzgeber / Verleih
Von Hartwig Vens · 11.01.2018
The Velvet Underground wären ohne ihn nicht denkbar gewesen, Minimal Music, Experimentalfilm, Konzept- und Medienkunst auch nicht: Tony Conrad war in allen Disziplinen dabei, meistens als erster. Ein Dokumentarfilm fügt das Puzzle eines Anti-Künstlers zusammen.
Die Szene ganz am Ende des Films bringt es auf den Punkt. Der Künstler Tony Conrad dirigiert den Verkehr. Er steht an einer Kreuzung und die Fahrzeuge fahren längs und quer an ihm vorbei. Conrad gibt die Anweisungen, welches Fahrzeug wann und wie zu fahren hat.
"Jetzt nur von rechts"
- "Jetzt ein großer LkW, oh, ich liebe diesen Bass"
- "Jetzt bitte Kinderlärm"
- "Habe ich um ein Fahrrad gebeten? Ein Fahrrad macht nicht genug Krach".
Zwei Minuten lang lässt Regisseur Tyler Hubby diese Szene stehen. Eine Konzept-Choreografie. Denn der Verkehr fließt natürlich nicht nach den Anweisungen des Dirigenten. Der Dirigent maßt sich das nur an, behauptet eine Herrschaft, die er nicht hat. Und unterminiert, wenn auch nur für einen Moment der Irritation, die gesicherte Wahrheit.
Die Subversion dessen, wie die Dinge zu sein haben, ist Tony Conrads Geschäft. Mit anarchischem Witz und einer geradezu obsessiven Verspottung von Hierarchien, Kanon, ewigen Wahrheiten, vor allem in den Künsten.

"Ich wollte Komposition abschaffen, ich wollte, dass sie ausstirbt"

Tony Conrad war Musiker, Filmemacher, Künstler und Medienaktivist. Die New Yorker Minimal-Avantgarde ist ohne ihn nicht vorstellbar. Anders als deren bekannte Vertreter wie Philip Glass, Steve Reiche, und La Monte Young gehört Conrads Name aber nicht zum Kanon. Er wurde, wie es der Labelbetreiber Jeff Hunt ausdrückt, "aus dem Foto herausgeschnitten".
Schuld daran ist vor allem er selbst:
"Ich war gegen Professionalisierung, gegen die Kultur des Komponisten als Beruf. Leute wie Philipp Glass, Steve Reich, Terry Riley und LaMonte Young studierten Komposition und wollten große Komponisten sein. - Ich wollte kein Komponist sein, ich wollte Komposition abschaffen. Weg damit, das soll aussterben."
Ein anderer Grund ist, dass Conrad Ideen meistens als erster in die Welt setzte, und bevor es einen Namen dafür gegeben hätte, schon wieder weg war. So in seiner Episode mit den Velvet Underground. Mit John Cale und Lour Reed, den beiden Köpfen der bahnbrechenden Band, betrieb Conrad ganz kurz die Band "The Primitives".
Den Namen ihrer Nachfolgeband hat er ihnen noch "hinterlassen". Als Cale und Reed in Conrads Appartment einzogen und er aus, fanden sie ein Buch, das er liegengelassen hatte, Titel: The Velvet Underground.
Unfassbar, dass Conrad in den 80ern Conrad ausschließlich als Konzeptfilmer bekannt, weil seine Musik "out of print" und nur Spezialisten bekannt war. Als er in seinem Loft ein Konzert veranstalten wollte, kam niemand hin. Was heute surreal wirkt, weil er in den 1990er-Jahren massiv wiederentdeckt wurde und heute als bedeutender Einfluss auf Rock und Avantgarde gilt.

Ein 50 Jahre langer Film

So ist es in allen Disziplinen. Conrad war legendär bis zur Vergessenheit. Sein Film "The Flicker" von 1965 gilt als bedeutendes Frühwerk des Conceptual Film. Er bestand komplett aus schwarzen und weißen Bildern , die in hoher Geschwindigkeit abwechseln, ein halbstündiger Stroboskopeffekt. Es gab damals übrigens einen Warnhinweis, der Film könne Unwohlsein bis hin zu epileptischen Anfällen auslösen.
Noch weiter ging er mit seinen Yellow Movies. Conrad wollte Andy Warhol, der den achtstündign Film Empire gemacht hatte, in Sachen Länge überbieten. 50 Jahre sollte sein Film dauern. Kein Projektor, kein Filmmaterial würde das mitmachen. Also malte er ein schwarzes Rechteck auf eine Leinwand und strich diesen Rahmen mit billiger weißer Wandfarbe aus.
Der "Film" war der Zerfalls- und Vergilbungsprozess auf der Leinwand. Quasi Synästhesie: Der Film mit den Produktionsmitteln der Malerei, der sich im Tempo der Material-Alterung fortschreibt.
Er hat aber auch umgekehrt gearbeitet: Kunst mit den Produktionsmitteln des Films. Conrad verarbeitete da Filmrollen nicht, indem diese durch eine Kamera gedreht wurden, sondern gekocht, zu Curry verarbeitet oder sauer eingeweckt. Was dann wiederum gefilmt wurde. Die Filme und Objekte wurden, wie die Yellow Movies auch, in Galerien und Museen ausgestellt.
So wie hier zwischen Kunst und Film war Dekontextualisierung, das erkennt man in Hubbards Film wieder und wieder, ein wesentliches Moment von Tony Conrads Schaffen. Den sozialen Rahmen zu verlassen, war mindestens so wichtig wie das, was darin stattfand.

Subversion - ein abgedroschener Begriff passt

Und schließlich war war Tony Conrad auch Medienkünstler und -aktivist. Anfang der 80er-Jahre machte er im Offenen Kanal Sendungen wie "Homework Helpline", in dem Jugendliche anrufen konnten, um sich von anderen Jugendlichen bei den Hausaufgaben helfen zu lassen. Ein Service, der sich vor allem an Unterprivilegierte richtete, die keine Unterstützung durch Eltern oder sonstige Helfer hatten.
Genauso wie "Studio of the Streets", deren Ziel und Inhalt war, medienferne Bürger zu überreden, selbst Fernsehen zu machen.
Subversion - selten hat dieser eigentlich abgedroschene Begriff besser gepasst als hier. Tony Conrad hat die Idee, Kunst zum Beruf zu machen, ja überhaupt zu definieren, notorisch untergraben. "Tony Conrad - Completely in the Present" bezeugt diese Haltung und die hinreißende Persönlichkeit dahinter. Viel mehr musste Tyler nicht machen.
Aber was heißt "viel mehr" - gerade die Tatsache, dass er Conrad und seinen Wegbegleitern den Raum überlässt, auf einen Off-Sprecher verzichtet und sich darauf beschränkt, die Geschichte zu "komponieren", ist einer unter den vielen großartigen Aspekten dieses Films. Über 22 Jahre hinweg hat Regisseur Tyler Hubby Tony Conrad immer wieder getroffen. In einem Interview außerhalb dieses Films hat Tony einmal gesagt, er sei selbst "puzzled" von seinem Werk. Hubby hat dieses Puzzle zusammengesetzt.