Dokumentarfilm

Schuld und Vergebung

Die Regisseurin Annekatrin Hendel
Die Regisseurin Annekatrin Hendel © Deutschlandradio - Sandra Ketterer
Moderation: Patrick Wellinski · 27.09.2014
In den 1980er-Jahren war der Schriftsteller Sascha Anderson der Kopf der DDR-Künstlerszene in Berlin Prenzlauer Berg. Für die Stasi spionierte er seine Kollegen aus. Die Regisseurin Annekatrin Hendel will mit ihrem Film keine Antworten geben, sondern Gespräche anregen.
Patrick Wellinski: Er war der Kopf und das Gravitationszentrum der DDR-Künstlerszene im Berliner Prenzlauer Berg der 80er-Jahre: der Schriftsteller Sascha Anderson. Er prägte und lenkte die Geschicke der ostdeutschen Boheme wie kein zweiter und spionierte sie gleichzeitig als Stasi-Spitzel aus. Die Mitarbeit mit der Staatssicherheitsbehörde enthüllten Wolf Biermann und Jürgen Fuchs. Es war der Anfang einer breit geführten öffentlichen Debatte, und nun kommt ein Dokumentarfilm über Sascha Anderson in die Kinos und stellt diese hochproblematische Persönlichkeit erneut in den Mittelpunkt – "Anderson" – so der schlichte Titel des dann doch sehr komplexen Films. Und die Regisseurin ist jetzt bei uns im Studio. Annekatrin Hendel – willkommen!
Annekatrin Hendel: Guten Tag!
Wellinski: Ihr Film beginnt eigentlich damit, dass Sascha Anderson Ihnen seine Stasiunterlagen gibt. Er sagt dann: "Ich habe ihn gar nicht gelesen, diesen Stoff, aus dem die Träume sind." Ist in dieser Szene eigentlich nicht schon der ganze Problemkomplex Sascha Anderson irgendwie verankert? Also, dass wir wissen, er war Spitzel, aber eigentlich wissen wir dann doch nichts Genaues. War das auch vielleicht der Grund, warum Sie diesen Film überhaupt gemacht haben?
Hendel: Ja, also mein Eindruck war, dass die Leute, die mit ihm zu tun hatten, nicht fertig waren mit dem, ich sage jetzt mal, Problem Sascha Anderson. Für viele Leute hatte er eine wichtige Funktion, noch zu Vorwendezeiten, und es gab wohl durch diese IM-Tätigkeit oder durch die Aufdeckung der IM-Tätigkeit und auch durch dieses lange Nicht-genau-Wissen, ist es so gewesen, ist es nicht so gewesen – doch eine große Irritation unter den Leuten, und die ist im Grunde auch geblieben.
Wellinski: Wie lange mussten Sie ihn eigentlich überreden, bei dem Film mitzumachen?
"Mit Anderson das Gespräch gesucht"
Hendel: Es ist ja so, dass ich vorher schon einen ersten Teil zu meiner Trilogie gemacht habe, "Vaterlandsverräter", und zu diesem Teil habe ich ihn schon angesprochen, und im Grunde erst richtig kennengelernt. Und dann waren wir im Gespräch, und das hat dann eine Weile gedauert, aber es war ein Gespräch, so wie es auch im Film ein Gespräch ist. Wir sind dann irgendwie im Gespräch gewesen und geblieben.
Wellinski: In "Vaterlandsverräter" kommen Sie Paul Gratzig sehr nahe, hier wieder dem Sascha Anderson sehr nahe. Wie suchen Sie diese Nähe zu diesen Menschen? Wie schaffen Sie das? Weil Sie ja durchaus immer in diesem Spiel sind, abgestoßen zu werden mit einigen Antworten. Dann versuchen Sie wieder, diese Nähe aufzubauen. Was ist das für eine Arbeit?
Hendel: Bei Paul Gratzig gab es die Nähe, weil ich den Mann sehr, sehr lange kenne, schon seit 1988, und da gab es die Nähe einfach. Ich kann auch gar nicht sagen, dass ich die Nähe suche, sondern ich suche eher das Gespräch, und darum geht es mir eigentlich. Und möglichst ein Gespräch nicht von unten oder von oben herab, sondern auf Augenhöhe, und – darum geht es mir insgesamt. Und ich glaube auch, dass wir alle gut beraten sind, wenn wir versuchen, gerade wenn es Probleme gibt, welcher Art auch immer, wenn man da irgendwie in eine Kommunikation kommt und möglichst so – also eigentlich ist es ganz einfach.
Wellinski: "Anderson" genauso wie "Vaterlandsverräter" sind Filme, so wie ich sie jedenfalls begreife, die jetzt keinen reinen DDR-Aufarbeitungslektionen sind, eher so filmische Versuche, die Begriffe wie "Verrat", "Schuld", "Sühne" versuchen zu reflektieren. Suchen Sie in diesen konkreten Schicksalen also so allgemeingültige Tatsachen?
Hendel: Wenn wir ein Wort herausnehmen, das Wort Verrat, worum es mir zum Beispiel auch geht oder auch Schuld – Verrat gibt es, seit es die Menschheit gibt, gibt es auch heute, wird es womöglich immer geben, und insofern ist darin ja schon eine ganz große Universalität, aber die Filme oder die Stoffe, die jetzt, also über die wir jetzt reden, diese beiden zum Beispiel, aber auch andere, die ich mache über jüngere deutsch-deutsche Geschichte, sage ich mal, die mache ich vor allen Dingen deshalb, weil ich diese Filme, die ich mache, vermisst habe.
Und mir geht es auch gar nicht nur immer um die krassen Konflikte, sondern mir geht es auch immer gleichzeitig darum, Lebensgefühl zu erzählen, so wie ich es gekannt habe, als ich jung war. Und da gehört eben immer alles zusammen. Es war eine ganz, ganz tolle Zeit, und es war auch eine ganz schwierige Zeit. Und ich versuche eben, diese Amplitude zu erzählen. Also nicht nur, wie schrecklich und wie schlimm und wie grausam. Aber auch nicht nur wie schön und wie herrlich und wie frei – so ohne Geld und so. Sondern ich versuche eben immer, diese Dinge zusammenzubringen, so wie ich es auch erlebt habe.
Kulisse im Dokumentarfilm – ein Erinnerungsraum, eine Attrappe
Wellinski: Und Sie tun das mit sehr filmischen, sehr auch artifiziellen Mitteln. Also es gibt Interviews, ganz klassische, bei Ihnen im Dokumentarfilm, sie nutzen aber auch einen, ich würde sagen, Trick: Sie bauen in einem Studio die Wohnküche von Ekkehard Maaß nach, eines der größten Opfer von Sascha Andersons Spitzeltätigkeit, und diese Wohnküche, das war früher der Lesesalon der Prenzlauer-Berg-Szene, aus der dann auch die meisten Informationen von Sascha Anderson an die Staatssicherheit getragen worden sind. Und in dieser Kulisse, in dieser nachgebauten Kulisse, konfrontieren Sie Anderson mit seiner Vergangenheit. Warum dieser Umstand?
Hendel: Für mich ist es kein Umstand, für mich ist das ein Stück wirklicher Erinnerungsarbeit – also wirklich jeden Gegenstand in die Hand zu nehmen und anzuschauen, den neu aufzubauen. Das hat auch ganz private Gründe, das hat auch ganz durchdachte Gründe natürlich. Aber der private Grund ist, dass ich Ausstatter bin, dass es mich fasziniert und interessiert, sowieso.
Und natürlich gibt es ganz viele Gedanken dazu, warum ich das gemacht habe. So einen Erinnerungsraum zu schaffen, eine Attrappe von einer Welt, so wie ich sie mal gekannt habe, wie sie aber auch wirklich realiter noch existiert. Bei Ekkehard Maaß ist es ja – das ist ja bis heute seine Küche. Aber in dem Moment, wo sie im Studio steht, ist es wie eine Attrappe, und es geht ja auch um Wahrheit, um was ist echt, was ist nicht echt – um solche Fragen. Und mir macht es einfach eine Freude, auch damit zu spielen.
Wellinski: Hat das Konzept denn im Hinblick auf die Konfrontation mit Sascha Anderson funktioniert? In der richtigen Küche ist er ja so eine Art Persona non grata. Sie haben ihn ja bewusst dahin gesetzt. Haben Sie da die Sachen herausbekommen von ihm, sie Sie sich vorher überlegt haben?
Über Vergangenes sprechen aus dem Jetzt heraus
Hendel: Also es ist erst einmal so, dass mir Ekkehard Maaß auch angeboten hat, dass wir in seiner echten Küche drehen. Aber ich bin jetzt nicht irgendwie der liebe Gott, der jetzt irgendwie diese beiden Männer dann doch an dem Ort des Geschehens zusammentrommelt. Ich wollte einfach einen Ort haben, wo ich mit Sascha Anderson sprechen kann über Vergangenheit oder Vergangenes aus dem Jetzt heraus. Und ich finde, dass es gelungen ist, und dass es eine Möglichkeit gab, mit diesem künstlichen Raum sich anders zu erinnern. Das denke ich schon, ja.
Wellinski: Meinen Sie eigentlich, dass jemand wir Sascha Anderson das glaubt, was er Ihnen da erzählt? Also dieses ständig Auf-alles-eine-Erklärung-haben – diese Argumente sind auch so häufig verklausuliert, von Widersprüchen durchzogen. Wenn er am Ende zum Beispiel – eine sehr eindrückliche Szene – erklärt, dass er sich nicht bei seinen Opfern entschuldigen kann, weil er es dem Gegenüber überlassen muss, ihm zu verzeihen – erst so würde ein Schuh draus werden. Glaubt er das wirklich?
Hendel: Ich selber finde es einen sehr interessanten Gedanken, der überhaupt nicht abwegig ist, und wo ich also wirklich toll finde, dass er uns die Aufgabe stellt, darüber nachzudenken. Ich möchte das jetzt auch nicht erklären oder selber bewerten. Ich habe es ja in den Film genommen und habe es mit meiner Haltung in den Film genommen. Mir geht es wirklich nicht darum, irgendwas aufzuklären oder zu enthüllen, sondern mir geht es darum, dass jeder Zuschauer selber darüber nachdenken kann, was es für ihn bedeutet.
Es ist natürlich Sascha Anderson einerseits – andererseits ist es eben doch ja eine universelle Frage, mit Schuld und Sühne und Verzeihen. Es betrifft uns ja auch heute jeden Tag. Wie gehen wir damit um? Und ich bin da mit einer Kamera, der Mann sitzt vor mir, und in dem Moment, wo er in die Kamera was von Verzeihung sprechen würde, sage ich mal, dann würde er uns alle meinen, die wir das da sehen. Aber was er macht ohne Kamera, das steht ja auf einem anderen Blatt.
Und ich habe den Film so gemacht oder für mich so verstanden, dass das ein Film mit offenem Ausgang ist. Also, dass es nicht darum geht, dass ich jetzt hier die Leute entlasse, die Protagonisten, die Zuschauer, damit, dass man sagt, aha, so war es, und gut, und zack!, jetzt ist fertig. Sondern es bleibt offen, und was wirklich passiert ist – und der Film hatte ja zur Berlinale Premiere, hat so eine Festivalreise hinter sich –, es ist wirklich ganz, ganz viel gesprochen worden miteinander. Der Film hat wirklich ganz, ganz viel aufgemacht und ganz viel Gespräch möglich gemacht und ganz viel Verständigung möglich gemacht. Das habe ich so gar nicht erwartet, aber das sind die ersten Erfahrungen mit dem Film. Und ich hoffe und denke, dass, wenn die Leute ins Kino gehen, sich das anschauen – die kommen danach miteinander ins Gespräch. Und das ist schon, was ich möchte.
"Verletzungen der Opfer sieht man sehr wohl"
Wellinski: Was da auch auffällt in Ihrem Film, ist, dass die früheren Weggefährten von Anderson, mit denen Sie auch reden, Opfer, die sich an ihn erinnern, an das, was er ihnen angetan hat, aber auch die Zeit davor. Man erwartet förmlich, dass einer von denen die Fassung verliert, mit der Faust auf den Tisch haut. Aber das sind alles sehr reflektierte Menschen, die sehr ruhig mit Ihnen auch sprechen. Hat Sie das überrascht?
Hendel: Mich haben ganz andere Sachen überrascht. Also ich fand es – ich finde es gar nicht so ruhig, und ich finde schon, dass es da krasse Äußerungen gibt, auch wenn sie mit Ruhe nach 25 Jahren vorgetragen werden. Die Verletzungen, die da existieren, die sieht man, finde ich, sehr wohl. Es ist ja ein Film. Man kann den Leuten in die Augen schauen, und man kann da zuhören und zuschauen.
Mich hat vielmehr überrascht, was eben zum Tag der Premiere passiert ist, als ich dann alle mal zusammen gesehen habe. Also ich habe sie alle vorher eingeladen, dass die sich einmal in die Augen gucken dann, bevor der Film dann losgeht. Und da sind sie alle gekommen und haben miteinander geredet. Das hat mich überrascht, das habe ich nicht erwartet, so, wie es dann war. Oder dass wir danach in diese Kneipe gegangen sind, die auch im Film eine Rolle spielt, die "Rumbalotte", und dass da dann auch wieder alle hingegangen sind und mitgekommen sind. Und dass da irgendwas stattgefunden hat, was ich so vorher nicht gesehen habe – und das hatte ich auch nicht erwartet.
Wellinski: Hat sich denn Ihr Bild von Sascha Anderson durch die Dreharbeiten verändert? Und wenn ja, wie?
Hendel: Es hat sich permanent verändert. Es verändert sich auch heute noch. Ja, es ist ja ein ganz interessanter Mensch, und auch die Erfahrung, die er jetzt selber mit dem Film macht, die verändert ihn ja auch wieder, und das verändert auch unser Verhältnis. Es ist ja auch viel Zeit vergangen – seit 1990 sind es fast 25 Jahre, seitdem Sascha Anderson enttarnt wurde, sage ich mal. In diesen 25 Jahren ist ja auch schon offensichtlich wahnsinnig viel passiert. Aber es ist ganz viel bis heute Unverarbeitetes da. Und ich weiß nicht, ob das viele Unverarbeitete nur bei Sascha Anderson ist, sondern ob es nicht auch bei vielen anderen Menschen noch da ist, und es gibt immer wieder neue Diskussionen, immer wieder neue Gespräche, Briefe und so was. Also ich bin da sehr neugierig und sehr scharf drauf.
Die Macht unbewusster Motive
Wellinski: Geht es nicht auch einfach um dieses Ausbleiben eines Verantwortungsgefühls? Ich meine, ist das nicht vielleicht auch der Moment, an dem Ihre Filme so kontrovers wirken. Denn Opfer können sich den zufriedenen Anderson, wie er da alle Ihre Fragen beantwortet, nicht ansehen, empfinden das vielleicht sogar als eine Art Selbstbeweihräucherung.
Hendel: Der eine empfindet es so, der andere so, also das ist offen. Was ich aber interessant finde: dass eben jeder das mit seinen Augen sehen kann.
Wellinski: "Vaterlandsverräter" und "Anderson" sollen ja Teil einer Trilogie werden. Da muss man ja auch gucken, was gibt es für Verbindungslinien zwischen den Filmen. Gratzig und Anderson, das sind beides Intellektuelle. Sie befragen beide, und was auffällt, ist, dass beide sehr klug ausgearbeitete Darstellungen ihres Lebens haben. Also, Sie können sie nicht wirklich argumentativ irgendwie so überraschen, dass sie stocken und fragen sich, ach so, darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Meinen Sie, dass diese Stasispitzel-Biografien aus der Intellektuellenszene sich darin gleichen, dass die Menschen nach der Wende oder nach ihrem Outing als Stasispitzel sich diese Konstrukte erstellt haben, die fast wasserdicht sind.
Hendel: Ich würde das jetzt gar nicht so als Konstrukt – erst mal hatten sie ja alle genug Zeit jetzt, überhaupt nachzudenken. Und der eine nutzt es so, der andere so. Aber was ich viel interessanter und wichtiger finde, ist ja die Tatsache, wenn man sie jetzt fragen würde, warum hast du das getan, warum bist du IM geworden – das ist ja, finde ich, eine ziemlich schwierige Frage, weil bei allen Dingen, die wir tun, und da sage ich wirklich absichtlich "wir", spielen ja ganz, ganz viele Dinge eine Rolle, die gar nicht mit unserem Bewusstsein zusammenhängen, sondern die im Unterbewussten stattfinden. Und diese unbewussten Motive, die dazu führen, sich bereit zu erklären, für einen Geheimdienst zu arbeiten – mich interessiert auch diese Region.
Wellinski: Der Preis des Verrats – gebrochene Biografien. Das alles dann ab Donnerstag in den deutschen Kinos, wenn "Anderson", der Dokumentarfilm, anläuft. Ich bedanke mich sehr bei der Regisseurin, bei Annekatrin Hendel!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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