Dokument der Zeitgeschichte

Reinhard Wilke war Anfang der Siebzigerjahre der engste Mitarbeiter von Willy Brandt. In seinem Tagebuch erinnert er sich nun an wichtige Entscheidungen der sozialliberalen Koalition, die Verleihung des Friedensnobelpreises oder auch an das gescheiterte Misstrauensvotum.
Zum 60. Geburtstag des Kanzlers, im Dezember 1973, wurde ein "Ständchen des Musikkorps des Bundesgrenzschutzes" dargeboten. Die höchsten Offiziere des BGS "begrüßen den Herrn Brandt im großen Kabinettssaal und treten mit ihm zum Ständchen auf die Terrasse". Das klingt nach heiler Welt im Kanzleramt, auch der Programmpunkt für 10.20 Uhr im Speisesaal: "Chor der Seelotsen". Doch die Welt des Herrn Brandt war da schon gar nicht mehr heil.

Den triumphalen Wahlsieg ein knappes Jahr zuvor hatten die Sozialdemokraten Willy Brandts recht schnell vergeigt. Die Koalitionsverhandlungen mit der FDP fanden weitgehend ohne ihn statt (er wurde an den Stimmbändern operiert), die Kabinettsdisziplin ging verloren,

FDP-Vizekanzler Walter Scheel wurde "immer überheblicher", und Willy Brandt litt an depressiven Schüben. Während die Ölkrise ihre ersten Schatten warf, ging es in der Schaltzentrale der Macht, im Kanzleramt, drunter und drüber. Eitle Geistesgrößen, die sich Willy Brandt geholt hatte, und sture Karrierebeamte kämpften ihren "Grabenkampf".

Darunter litten Fräulein Lenzen im Vorzimmer des Kanzlers und die Schreibkraft Fräulein Dörner und Fräulein Biehler ("eine große Blonde") aus der Redenschreiberstube. Und es litt der loyale Reinhard Wilke: "So geht es einfach nicht mehr weiter."

Wilke verrät in seinem Buch keine Sensationen. Die Geschichte der sozialliberalen Koalition muss nicht neu geschrieben werden. Der einstige Verwaltungsrichter ist ein nüchterner Protokollant der Götterdämmerung im Kanzleramt. Er ist der Notar des Niedergangs – und ein Mann des Hintergrunds: ein scharfer Beobachter, ein kühler Analytiker. Und er ist ein karger Schreiber ohne selbstverliebte Wortgirlanden – was den Text zwar nicht vergnüglich, aber außerordentlich lesbar macht - und glaubwürdig. Gelegentlich hat Wilke seine Aufzeichnungen von damals mit kleinen Kommentaren versehen. Seine kritischen Anmerkungen der handelnden Personen in der Endphase der Ära Brandt sind die eines kühlen Juristen.

Auch der erste sozialdemokratische Kanzler der Bundesrepublik wird nicht verschont: etwa wegen seines "mangelnden Sinns" "für effektive moderne Planung" gescholten oder wegen der "alten Eigenschaft von Sozialdemokraten": "alles vor sich herschieben". Aber in seinem getreuen Wilke findet der Herr Brandt einen gnädigen Richter – mit großem Verständnis für "die alte Sehnsucht des Emigranten, vom ganzen Volk anerkannt zu werden".

Nur Günter Guillaume – die graue Spionagemaus, die aus dem Osten kam – lockt Wilke richtig aus der Reserve: der "Intrigant", der "Politkommissar", "dieser kleinmütige Mensch" – der nicht Grund für Brandts Rücktritt war, aber ihn auslöste. "Dieser beschränkte Parteifunktionär", den man trotz des Verdachts der Spionage auf den Posten als Referent im Kanzleramt und an geheime Akten ließ. Da wird Reinhard Wilke zum strengen Richter – über sich selbst: der "ich versagt habe und meinen Anteil an einer der größten Katastrophen der deutschen Demokratie hatte". Da würden wir ihm doch gerne nachrufen: niedriger hängen, wackerer Wilke!

Besprochen von Klaus Pokatzky

Reinhard Wilke: Meine Jahre mit Willy Brandt. Die ganz persönlichen Erinnerungen seines engsten Mitarbeiters
Hohenheim Verlag Stuttgart/Leipzig, 2010, 272 Seiten, 19,90 Euro