Doku über Schlingensiefs "Chance 2000"

Eintauchen in den Strudel einer Kunstaktion

Der deutsche Regisseur Christoph Schlingensief im Wahljahr 1998 beim "Protest-Bad" mit einigen Anhängern am 2.8.1998 im Wolfgangsee. Sie demonstrierten damit gegen Helmut Kohls Arbeitsmarktpolitik.
Christoph Schlingensief im Wahljahr 1998 beim "Protest-Bad" mit einigen Anhängern im Wolfgangsee © dpa / picture alliance / epa APA Fesl J.
Von Laf Überland · 04.09.2017
Im Wahljahr 1998 gründete der Regisseur Christoph Schlingensief in einem Biergarten eine Partei: die Chance 2000. Halb inszeniert, halb ernstgemeint zog er in den Wahlkampf. Ein Dokumentarfilm erzählt nun von seiner längsten Kunstaktion überhaupt - berauschend chaotisch und überraschend stringent zugleich.
Wahlspot: "Chance 2000, das modernste Netzwerk Deutschlands, das ist die Selbstbewusstseinsmaschine von heute! Ich fordere Sie auf: Wählen Sie sich selbst! Wir wissen wie das geht. Rufen Sie an, wir informieren Sie, und dann stehen Sie auf dem Wahlzettel!"
Im Wahljahr 1998 gründet Christoph Schlingensief mit seinen Helfern eine Partei: "Chance 2000 - Scheitern als Chance - Abschied von Deutschland". Im Prater-Biergarten, der Zweigstelle der Berliner Volksbühne in Prenzlauer Berg, nimmt die Aktion ihren Anfang in einem Zirkuszelt mit lebendigen Ziegen, Artisten und Schlingensief in Zirkusdirektorenuniform mit Gretchenzöpfen.
"Christoph Schlingensief, Bernhard Schütz und Chancisten: Nehmt Abschied von Deutschland, es ist alles vorbei. Bring mir den Kopf von Gerhard Schröder! Bring mir den Kopf von Gregor Gysi! Bring mir den Kopf von Joschka Fischer!"
Und von da an sprudelt der Meister neun Monate lang permanent Slogans, Predigten, Beschwörungsrituale und verbalen Slapstick; er salbadert herum und widerspricht sich gern selbst in Gedanken, Manifesten und Gebrauchsanweisungen für jedermanns eigene Parteigründung.
Schlingensief: "Die kleinste Einheit von einem Volk ist 'Eins Volk': Jeder ist ein kleines Volk, und jeder muss sich selber erstmal verwalten lernen..."

Lustig-subversive Lausbubengeschichten

Berauschend chaotisch und gleichzeitig stringent ist die Montage, die Schlingensiefs Video-Fachfrau Kathrin Krottenthaler aus um die hundert Stunden Material unterschiedlichster Formate und Qualität zu einem ein Zweistunden-Erlebnis zusammengeschnitten hat: zum völligen Eintauchen in den Strudel der Aktion - direkt und rau mitten unter die 74-oder-so Volksbühnenschauspieler, Arbeitslose und behinderte Artisten vom Zirkus Sperlich - und in Schlingensiefs dialektisches Seilchenspringen.
Schlingensief: "Alles, was ich sage ist natürlich Meta-Ebene, ist was anderes....
Genau! Und wenn der Visionär selbst den Durchblick verliert, leistet der Volksbühnen-Dramaturg und Psycho-Kunst-Ideologe Carl Hegemann erste Hilfe...
Carl Hegemann: "Ich würde dem aber ideologisch keinen großen Wert beimessen!"
Natürlich gibt es ein paar lustig-subversive Lausbubengeschichten wie die vom Rudeleinkaufen im KaDeWe mit einer Schar von Behinderten und Sozialhilfeempfängern und anschließendem Polizeieinsatz. Aber die Botschaft ist eigentlich ernst: Wenn doch nur alle Arbeitslosen, Behinderten und sonstige vom Radar verschwundenen Minderheiten sich mal wieder zusammenfinden würden...!
Schlingensief: Die haben die Mehrheit, und wenn die tatsächlich sich wieder begreifen würden in ihrer Macht, könnten sie die ganze Bundesrepublik tatsächlich umkrempeln.
Politik ist eine Inszenierung, und mit Inszenierungen kennen die Theaterleute sich aus - auch auf der Straße.
Polizist: "Hallo? Ja hier ist die Polizei Abschnitt 32..."
...und auch im Fernsehen. Und es ist charmant, wie Schlingensief Sabine Christiansen in ihrer eigenen Polittalkshow nicht zu Wort kommen läßt, bei Biolek auf begeisterte Belustigung stößt und bei Harald Schmidt ein Heimspiel absolviert.
Harald Schmidt: "Ihr meint es schon ernst? Oder ist das wieder so ein Schabernack von euch jungen Wilden, also dass wir Älteren, denen Politik und die Parteien ja doch noch etwas bedeuten, da verunsichert werden sollen?"
Ist es nicht! Das zeigt auch die Erschöpfung, als die Partei dann tatsächlich in acht Bundesländern antritt...
Schlingensief: "Es ist so eine Scheiße, eine Partei zu gründen. Man verliert gute Freunde, man verliert sich selbst aus den Augen, der Kopf ist leer..."

Massenbad im Wolfgangsee

Höhepunkt des Wahlkampfs und auch des Films ist natürlich der Versuch, durch das Massenbad von sechs Millionen Arbeitslosen Helmut Kohls Ferienparadies, den Wolfgangsee, überlaufen zu lassen. Das ist so ausgelassen wie ein Klassenausflug ins Schwimmbad mit Megafon! Und so sieht es eigentlich auch aus, wo die sechs Millionen ja nicht gekommen sind...
Schlingensief: "Ansonsten habe ich zwei Anrufe bekommen, zwei Faxe von Arbeitslosenvereinigungen, die jetzt um 16 Uhr mit uns solidarisch in Deutschland zuhause in ihren Wohnungen in der Badewanne baden werden."
Es sind die sympathische Besessenheit des Christoph Schlingensief und das rückhaltlos naive Mitziehen seiner Truppe, die diese zweistündige Schnipselcollage so geradezu heimelig anzusehen machen: altmodisch persönlich, von unserer datenfixierten Zeit aus betrachtet. Und während die Akteure ständig hin und her geworfen werden zwischen Performance und Realität, ist CHANCE 2000 auch ein Kurs in angewandter Staatsbürgerkunde, wie sie der seelenlose Wahlkampf 2017 durchaus als Weckruf gut gebrauchen könnte. Und auch ein politisches Herz so groß wie das des durchgeknallten Theatermeisters könnte nicht schaden: halb echt, halb gespielt - aber ganz Schlingensief!
Schlingensief: "Weil ich an die Sache glaube! Und die Sache bin ich selber! Und Kerstin ist es selber! Und Alex ist es selber! Und du und du und alle sind es es selber! Und alle nehmen es ernst – das Leben! Das Leben! Das Leben!"
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