Doku über Minderjährige bei der Staatssicherheit

Die große Zerrissenheit

08:32 Minuten
Christian Ansehl als Jugendlicher auf einem alten Foto. Er spielte in einer Band Gitarre.
Christian Ahnsehl in einem Alter, in dem viele Jugendliche davon träumen, Rockstar zu werden. Stattdessen rekrutierte ihn die Stasi. © Populärfilm Media
Kathrin Matern im Gespräch mit Ute Welty · 11.09.2019
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Minderjährige als Mitarbeiter der Stasi: Um eine Dokumentation über dieses Thema zu drehen, hat die NDR-Autorin Kathrin Matern über drei Jahre hartnäckig recherchiert. Ihr Film "Die Stasi im Kinderzimmer" zeigt auch die Nachwirkungen für die Betroffenen.
1966 gab Stasi-Chef Erich Mielke den Erlass heraus, auch gezielt Jugendliche für Spitzel-Dienste zu suchen. Forschung zu diesem Thema ist kaum möglich - die Akten der Stasi-Unterlagenbehörde sind nicht zugänglich, um die damals Minderjährigen zu schützen. Die Filmemacherin und NDR-Autorin Kathrin Matern hat sich dennoch die Mühe gemacht und ist über viele Gespräche an Betroffene herangekommen. Schließlich fand sie vier Protagonisten für ihren Dokumentarfilm "Die Stasi im Kinderzimmer", der am heutigen Mittwoch in Berlin gezeigt wird.

Das Interview im Wortlaut:

Ute Welty: Berlin-Premiere heute für die Dokumentation "Die Stasi im Kinderzimmer". Die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur zeigt diesen Film von Kathrin Matern, die daran drei Jahre lang gearbeitet hat. Es geht um Minderjährige in der DDR, die von der damaligen Staatssicherheit angeworben und ausgenutzt wurden. Nach Ihrer Recherche, wie viele Jugendliche und Kinder sind denn von der Stasi tatsächlich angeworben worden?
Matern: Das ist tatsächlich eine Frage, die schwer zu beantworten ist, weil es relativ schwer ist, über Minderjährige, sogenannte IM, zu forschen, weil das Stasi-Unterlagen-Gesetz da sozusagen einen Schutzmechanismus eingebaut hat, sodass es schwierig ist, eine Auskunft über Kooperationen mit der Staatssicherheit vor dem 18. Lebensjahr zu bekommen.
Das ist sozusagen letztlich auch ein Grund, weshalb die Recherche dann doch relativ lange gedauert hat und es gedauert hat, Menschen zu finden. Es gibt ein paar prominente Fälle, von denen man weiß, die einfach schon durch die Presse gegangen sind in den vergangenen Jahren. Da habe ich natürlich auch angefangen zu recherchieren bezüglich dieser Fälle, aber noch mal dann andere Menschen zu finden, das ist dann relativ schwer.
Christian Ansehl lebt noch in der Stadt seiner Kinderheit, Rostock.
Christian Ansehl heute. Er wurde mit 15 Jahren von der Stasi angeworben. Und hat sich später seiner Vergangenheit gestellt.© Populärfilm Media
Welty: Aber es ist Ihnen ja gelungen. Wie ist es Ihnen gelungen?
Matern: Es ist so ein bisschen gelaufen dadurch, dass ich die bekannten Menschen oder die in der damaligen Presse bekannten Menschen angesprochen habe und Kontakt aufgenommen habe, und dann ist es ein Schneeballeffekt. Dann erzählt der eine mir von wem und der andere erzählt mir von einem anderen, und dann geht es immer so weiter.
Und dann guckt man, okay, ist ein Treffen möglich, können wir uns unterhalten, kann sich der- oder diejenige das überhaupt vorstellen, mit mir auch später mal vor der Kamera zu sprechen. Das ist ein relativ langer Prozess gewesen, und da hat es natürlich auch sehr viele Hintergrundgespräche gegeben, die dann auch Hintergrundgespräche geblieben sind.
Welty: Das Ganze hat begonnen 1966, damals hat Stasichef Erich Mielke erlassen, auch gezielt Jugendliche eben als Spitzel zu suchen. Was hat Mielke damit bezweckt?
Matern: Ich denke, dass das MfS versucht hat, in Kreise vorzudringen, die sonst eigentlich nicht möglich gewesen wären zu betreten, also Studentengemeinden, FDJ-Gruppen, Fußballgruppen, einfach Kreise, in denen explizit Jugendliche unterwegs sind und wo man natürlich mit Gleichaltrigen besser aufgestellt ist, dort an Informationen ranzukommen, als wenn dort Erwachsene aufgetreten wären, die ohne Zweifel trotzdem ja auch unterwegs gewesen sind als IMs.

Ein schlechtes Gewissen gab es schon

Welty: Und worin bestand dann der Informationsgewinn?
Matern: Der Informationsgewinn bestand einfach darin, dass – so wie einer unserer Protagonisten auch erzählt – man sozusagen reingegangen ist in die Gruppe und dann noch mal vielleicht auch ein bisschen argloser Dinge beschrieben hat, die dort passiert sind – so wie der Protagonist, der in der sogenannten Siebenten-Tags-Adventisten-Gruppe in Rostock unterwegs gewesen ist, der dort sehr dezidiert, aber auch in einer relativ arglosen Weise das Geschehen beschrieben hat, was da passiert ist.
Welty: Also kein schlechtes Gewissen?
Matern: Das schlechte Gewissen, doch, das gab es, glaube ich, auch. Aber diese Form oder diese Art von "Tätigkeit", in Anführungszeichen, ist ja die, die dann tatsächlich auch den Missbrauch kennzeichnet: Einerseits – das beschreibt der damals Jugendliche Christian auch –, dass es auf der einen Seite so ein unglaubliches Hochgefühl war, und dass er sagt, die Staatssicherheit habe ihm natürlich auch geschmeichelt, indem sie ausgerechnet ihn ausgewählt hat.
Aber auf der anderen Seite ist es natürlich allein dadurch, dass es eine Situation ist, in der die Tragweite einer Entscheidung gar nicht überblickt werden kann, wenn man 15 Jahre alt ist und eine Verpflichtungserklärung unterschreibt, die dann einfach eine missbräuchliche Situation ist. Es ist ja sozusagen das Wesen auch des Missbrauchs, dass es ein Machtgefälle gibt, dass es eine vermeintliche Nähe gibt zum Führungsoffizier, trotz des Altersunterschiedes, so wie Christian im Film auch erzählt.
Dann habe die Stasi beziehungsweise sein Führungsoffizier im Trabant beziehungsweise Wartburg mal gefragt: Willste 'ne Zigarette? und dann, sagt er, ist es ein unglaubliches Gefühl: Du rauchst, du bist 15, darfst offiziell in der DDR noch gar nicht rauchen und Zigaretten kaufen, aber Du rauchst mit der Staatssicherheit eine Zigarette und darfst es aber eigentlich niemandem erzählen. Und das ist natürlich eine Situation, die auch ein schlechtes Gewissen verursacht, um auf Ihre Frage zurückzukommen, aber vielmehr eigentlich eine große Zerrissenheit.

Das Thema Stasi beschäftigt die Menschen noch

Welty: Und eine große Verführung offenbar auch. Inzwischen dürften die Jugendlichen von damals ja mehr als erwachsen sein. Was wissen Sie darüber, wie es diesen Menschen heute geht, die dann ja eben auch mit einem Stück Schuld umgehen müssen?
Matern: Wir haben ja insgesamt vier Protagonisten, und der Christian, von dem ich erzählt habe, ist der einzige Protagonist im Film, der als Inoffizieller Mitarbeiter eine Verpflichtungserklärung unterschrieben hat. Dann haben wir noch Sascha Kriese, der sollte versucht werden anzuwerben vom MfS in der Schule, der war damals im gleichen Alter wie Christian. Bei Sascha Kriese haben die Eltern eine sogenannten Eingabe beim Staatsrat der DDR gemacht und haben ihn damit geschützt. Und dann haben wir zwei Protagonisten, die als Jugendliche sich verpflichtet haben, hauptamtlich zum MfS zu gehen, sodass das quasi zwei Seiten der Medaille abbildet, weil wir gesagt haben, wir müssen das Thema ein bisschen weiten.
Auf einer Wand stehen die Sätze "Ich will leben" und Wacht auf, befreit euch".
Anonyme Statements geben wieder, wie groß der Drang war, über die eigene Situation zu reden.© Populärfilm Media
Darüber gab es einen langen Prozess, einen langen Diskussionsprozess, und haben dann gesagt, auch das hat es in der DDR gegeben. Und weil Sie gefragt haben, wie es ihnen heute geht: Also ich hab schon gemerkt bei den Dreharbeiten, dass da noch sehr viel, wie soll ich sagen, sehr viel Dampf sozusagen drunter ist, in den Leuten drin, und sehr viel Spannung auch noch, einfach weil es bislang noch gar nicht so richtig die Gelegenheit gegeben hat, diesen Teil ihrer Biografie auch zu erzählen und auch so zu erzählen, ohne dass gewertet wird beziehungsweise bewertet wird und jemand in die Ecke gestellt wird.
Sondern wir haben gesagt, wir wollen gern mit den Menschen an die Orte von damals gehen, um auch noch mal ins Damals sozusagen zu kommen, weil dort alles seinen Anfang genommen hat. Und auf der anderen Seite haben wir aber auch sehr lange Interviews geführt, die in einem abgeschlossenen Raum stattgefunden haben, wo wir einfach auch quasi die Kamera haben laufen lassen und die Leute haben erzählen lassen.
Viele Leute fragen sich natürlich, warum braucht es 30 Jahre nach dem Mauerfall noch so einen Film, und da haben wir gesagt: Okay, also wir merken ja, die Stasi beschäftigt Leute noch. Und es ist eben Anfang der 90er-Jahre, als die Stasiarchive aufgemacht worden sind, und lange Zeit danach gab es eigentlich eine sehr undifferenzierte Betrachtung dieser Teile von Geschichte, und vor allem, was Jugendliche angeht.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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