Doku-Serie "Philly D.A."

Ein US-Staatsanwalt räumt auf

10:27 Minuten
Larry Krasner hinter dem Rednerpult bei einer Demonstration vor dem Gerichtsgebäude in Philadelphia.
Klare Haltung: Larry Krasner bei einer Demonstration vor dem Gerichtsgebäude in Philadelphia. © picture alliance / AP Photo / Matt Rourke
Ted Passon, Yoni Brook und Nicole Salazar im Gespräch mit Susanne Burg · 05.06.2021
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Vom Bürgerrechtsanwalt zum Bezirksstaatsanwalt: Larry Krasner ist seit 2017 in Philadelphia im Amt. Auf seinem Weg begleitet haben ihn die Filmemacher Ted Passon, Yoni Brook und Nicole Salazar. Susanne Burg hat mit ihnen gesprochen.
Nach dem Berlinale-Branchenevent im März findet nun die Sommerausgabe des Filmfestivals mit Publikum statt. Zu sehen sein wird unter anderem die sehr spannende dokumentarische Fernsehserie "Philly D.A.". Sie wirft einen Blick auf die Probleme im US-Justizsystem: die hohe Zahl an Inhaftierungen, überlastete Gefängnisse, Polizeigewalt.

Vom Rechtsanwalt zum Bezirksstaatsanwalt

Protagonist der Serie ist Larry Krasner, District Attorney, D.A., auf Deutsch: Bezirksstaatsanwalt von Philadelphia. Er hat 2017 für das Amt kandidiert, kurz nachdem Donald Trump Präsident geworden war, und überraschenderweise die Wahl gewonnen.
Überraschenderweise, weil Krasner zuvor jahrzehntelang auf der anderen Seite war: Er war Bürgerrechtsanwalt in Philadelphia. Drei Jahre lang haben die Filmemacher Ted Passon, Yoni Brook und Nicole Salazar diesen progressiven District Attorney begleitet. Ted Passon erzählte im Gespräch, wann er der Meinung war, dass das eine gute Geschichte für eine Dokumentarfilmserie sein könnte.
Ted Passon: Das war während seiner Wahlkampagne. Mir war Larry Krasner ein Begriff. Ich habe viele Freunde, die politisch aktiv sind und als Rechtsanwalt vorher von ihm vertreten wurden. Dann erzählte mir ein Freund, Larry Krasner bewerbe sich als Bezirksstaatsanwalt. Das kam so überraschend und war so komisch, dass ich beschloss, das mit der Kamera zu begleiten. Ich habe nie geglaubt, dass er tatsächlich gewinnen würde.
Larry Krasner nach der Wahl zum Bezirksstaatsanwalt im November 2017,
Larry Krasner nach der Wahl zum Bezirksstaatsanwalt im November 2017,© picture alliance/AP Images | Charles Fox
Es schien damals nur ein geschickter Schachzug, um die Diskussion auf das Amt des Bezirksstaatsanwaltes zu lenken. Als er gewann, war alles anders. Dann fragten wir uns: Wird er in der Lage sein, all die Sachen auch umzusetzen, die er gefordert hat? Da haben wir beschlossen, uns in seinem Büro einzunisten.

Transparenz war ein wichtiger Schritt für Krasner

Susanne Burg: Sie sagen, sie hätten sich eingenistet. Ich nehme an, das war nicht ganz einfach.
Ted Passon: Ja und nein. Larry war sehr offen für die Idee. Er hält diese Bewegung der progressiven Kräfte unter den Bezirksstaatsanwälten für ein neues Kapitel der Bürgerrechtsbewegung. Für ihn war es wichtig, diese Zeit als Dokument festzuhalten, damit andere von den Fehlern und den Erfolgen lernen können, und um Leute zu ermutigen, ebenfalls zu kandidieren.
Auch die Transparenz an sich war für ihn wichtig. Nach dem Motto: Wir übernehmen eine Institution, die traditionell eine komplette Blackbox war, die niemandem Einblick gewährt hat, wir öffnen sie und schauen, was dann passiert. Ich glaube also, dass ihn die vollständige Transparenz gereizt hat.
Susanne Burg: Theoretisch klingt das gut, aber in der Praxis hat das auch bedeutet, dass Sie mit der Kamera dabei waren, als er viele Leute auf einmal entlassen hat. Die waren darüber gar nicht froh. Selbst wenn er wollte, dass seine Mitarbeitenden mit Ihnen reden, hieß das noch lange nicht, dass die auch wirklich mit Ihnen redeten, denn es wurde lange geschwiegen in dem Büro. Wie haben Sie es geschafft, die Menschen zum Reden zu bringen und so dabei sein zu dürfen, dass man Sie irgendwann nicht mehr bemerkt hat?
Yoni Brook: Wir haben uns wirklich darum bemüht, die Menschen kennenzulernen und Beziehungen aufzubauen. Larry Krasner hat zunächst erst mal unseren Bedingungen zugestimmt, nämlich dass wir die Kontrolle über das Material haben und potenziell alles benutzen können. Gleichzeitig hat seine Pressestelle ihm und seinen Mitarbeitenden empfohlen, nicht bei dem Projekt mitzumachen. Sie fanden das keine gute Idee und gefährlich für seine politische Karriere.

Fast alle Strafprozesse werden vorab entschieden

Wir haben uns einfach Zeit genommen und mit Leuten gesprochen, warum wir den Film machen wollen. Warum wir der Meinung sind, dass es wichtig ist, zu verstehen, wie das Justizsystem funktioniert, dass es nicht wie im Fernsehen ist, mit einer Jury aus Geschworenen im Gerichtssaal, die entscheidet, ob jemand schuldig ist oder nicht. In den USA werden 95 Prozent aller Strafprozesse schon vorab durch Verständigung entschieden – in den Hinterzimmern des Staatsanwalts. Das ist eine der Ursachen für die hohe Zahl an Inhaftierungen.
Wir haben versucht klarzumachen: Larry Krasner ist gewählt und wir wollen ihn zur Verantwortung ziehen. Wir haben uns mit Polizisten unterhalten, mit Richtern und alten Staatsanwälten und haben auch ihnen erklärt, warum wir den Film machen wollten. Auch die kommen im Laufe der Serie zu Wort, die Menschen, mit denen er zusammenarbeiten muss, ob er will oder nicht.
Susanne Burg: Für unser Verständnis hier in Deutschland: Warum ist die Bezirksstaatsanwaltschaft eigentlich ein so wichtiges Amt, wenn man die Probleme im US-Justizsystem und in der Gesellschaft verstehen will?
Nicole Salazar: Es ist wichtig, zu verstehen, dass in den USA Gefängnisstrafen sehr selten auf nationaler Ebene entschieden werden, sondern lokal oder auf Ebene der Bundesstaaten. Es gibt in den USA 2500 gewählte Bezirksstaatsanwälte. Jedes dieser Büros hat einen bis zwei oder Hunderte von Juristen, die sogenannten Assistant District Attorneys, je nach Größe.
In Philadelphia gibt es 300 Anwälte und 600 Angestellte. Jeden Tag bearbeiten sie wie am Fließband Hunderte von Fällen, entscheiden, wer angeklagt wird und wer nicht, wie hart die Urteile und Bewährungsstrafen ausfallen. Das prägt unser Rechtssystem. All das passiert auf lokaler Ebene. Das heißt auch, dass es in zwei unterschiedlichen Bundesstaaten oder Countys sehr unterschiedliche Strafen für ein und dieselbe Straftat gibt. Das ist ein zentraler Punkt, um zu verstehen, warum es in den USA so verrückt zugeht.

Der erste Bezirksstaatsanwalt ohne Unterstützung der Polizeigewerkschaft

Susanne Burg: Als Larry Krasner sein Amt antrat, gab ja viele Themen: die hohe Zahl Gefängnisinsassen, die mangelnde Rechenschaftspflicht der Polizei, Rassismus im Justizsystem. Sie thematisieren das auch in der Serie. Einen Punkt fand ich besonders interessant: Als die Polizei plötzlich immer weniger mit dem District Attorney kooperierte. Was passierte im Verhältnis zur Polizei, als Larry Krasner ins Amt kam?
Yoni Brook: Larry Krasner hatte schon bei seiner Wahl den Ruf als jemand, der, so nannte er es, die Polizei zur Verantwortung zieht. Denn in seinen Augen wurde das nicht genug getan. Er war vorher Rechtsanwalt und hatte Menschen vertreten, die die Polizei wegen Polizeigewalt und falscher Verhaftungen verklagt hatten. Er war bei 75 dieser Klagen dabei. Das heißt: Larry Krasner war eine bekannte Größe in Philadelphia. Er war die erste Person, die sich fürs Amt des Bezirksstaatsanwalts beworben hatte und nicht von der Polizeigewerkschaft unterstützt wurde.
Regisseur Yoni Brook bei einem Pressetermin der Film Independent Spirit Awards.
Neben Ted Passon Regisseur der Doku-Serie: Yoni Brook.© IMAGO / ZUMA Wire
In Philadelphia hatten die Polizei und das Büro des District Attorneys ein sehr enges Verhältnis. Da wurde nicht viel hinterfragt. In der Serie sieht man, wie Akten problematischer Polizisten nicht an die Bezirksstaatsanwaltschaft weitergeleitet werden. Es ist diese Kultur des Schweigens. Dieser Kodex, die Leute aus den eigenen Reihen zu schützen. Aber im Endeffekt verlieren alle dabei. Denn problematische Polizisten bleiben länger im Dienst und unschuldige Polizisten werden mit hineingezogen.
In der Serie sieht man, wie die Beziehung zwischen Larry Krasner und der Polizei immer angespannter wird. Schließlich ist Krasner der erste District Attorney seit 20 Jahren, der einen Polizisten im Dienst des Mordes anklagt dafür, dass er einen unbewaffneten Afroamerikaner in den Rücken geschossen hat. Über dieses Thema haben wir in letzter Zeit in den USA viel gehört. Mit diesem Wissen im Hintergrund schaffen wir einen Kontext dafür, warum das Verhältnis von D.A. und der Polizei so angespannt ist.

Krasner ist Kritik von unerwarteter Seite ausgesetzt

Ted Passon: Ich will nur noch hinzufügen: The Fraternal Order of Police, die Polizeigewerkschaft, ist eine der mächtigsten Gewerkschaften in den USA. Sie spenden viel Geld, sie unterstützen viele Politiker und sie haben eine sehr loyale Anhängerschaft. Viele Reformversuche innerhalb der Polizei und des Justizsystems scheitern an ihrer politischen Macht.
In der Vergangenheit war es auch häufig unmöglich, ohne die Unterstützung der Gewerkschaft District Attorney zu werden. Sich gegen sie zu stellen, ist politisch riskant, weil sie ein gewaltiger Gegner mit guten Kontakten ist. Später in der Serie werden wir sehen, dass die Kontakte bis ins Weiße Haus reichen.
Susanne Burg: Hat Larry Krasner die Macht dieser Kräfte unterschätzt?
Ted Passon: Ich glaube, als Rechtsanwalt war er sich sehr ihrer Macht bewusst. Womit er, glaube ich, gekämpft hat, war die Größe der Institution. Die Polizei ist so ein riesiger Apparat mit so vielen Mitarbeitern. Es ist schwer, sich gegen eine Wahlkampagne der Polizei aufzulehnen. Sie sind ständig in den Nachrichten, in den Stadtvierteln, sie sind überall und attackieren von allen Seiten.
Maureen Fauklner, Witwe des getöteten Polizisten Daniel Faulkner, protestiert vor Krasners Büro.
Nicht so begeistert: Maureen Fauklner, Witwe des getöteten Polizisten Daniel Faulkner, protestiert vor Krasners Büro. © picture alliance/AP Photo | Tim Tai
Yoni Brook: Eine Sache wird man in späteren Episoden sehen: Larry kennt die Polizei. Was er nicht so recht erwartet hat, war die Kritik von der politischen Linken, der der Kampf gegen die massenhaften Inhaftierungen nicht schnell genug und die Maßnahmen nicht weit genug gingen.

"Ein Moment des gesellschaftlichen Erwachens"

Susanne Burg: Unter der Präsidentschaft Trumps spitzte sich alles noch mehr zu – mit der Ermordung von George Floyd und der Black-Lives-Matter-Bewegung. Unter Demokraten gab es Stimmen, die sagten: Entzieht der Polizei die Finanzmittel. Wie haben die aktuellen Entwicklungen Ihr Projekt beeinflusst?
Nicole Salazar: Unsere Serie endet im Sommer 2020. Es ist eine Art historisches Dokument über die Bewegung für eine Reform des Justizsystems. Wir zeigen die Konfrontationslinien auf, und dass die jetzige Situation nicht aus dem Nichts kam. Man sieht, wo die Hürden beim Kampf liegen. Das beeinflusst hoffentlich auch die jetzige Diskussion.
Susanne Burg: Es ist bei so einem Projekt natürlich auch schwierig zu sagen, wann der geeignete Zeitpunkt ist, um aufzuhören. Wie haben Sie den festgelegt?
Ted Passon: Es schien für uns richtig, mit George Floyd aufzuhören. Das war für uns ein Moment des gesellschaftlichen Erwachens. Man filmt nicht mehr danach. Alles, was wir in den Jahren davor schon gesehen haben, hat sich hier herauskristallisiert. Wir wollten, dass die Serie eine Zeitkapsel für all die Themen ist, die in der Zeit in den USA herumgeschwirrt sind.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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