Dokfilm "Mein Paradies"

Ein Jeside auf Heimatsuche

Demonstration von Jesiden in Bielefeld gegen Gräueltaten des "Islamischen Staats" 2014
Demonstration von Jesiden in Bielefeld gegen Gräueltaten des "Islamischen Staats" 2014 © dpa / picture alliance / Caroline Seidel
Von Verena Kemna · 17.02.2016
Sie haben zusammen Abitur gemacht, waren Christen, Muslime und Jesiden in Nord-Syrien. Heute lebt der 43-jährige Jeside Ekrem Heydos in Berlin. Für seinen Dokfilm "Mein Paradies" ist er in die Heimat gereist, um zu verstehen, wie Freunde Feinde wurden.
Ein Bild aus glücklichen Tagen: 16 junge Männer sitzen auf einer Steintreppe vor ihrer Schule, lächeln, winken in die Kamera. Gerade haben sie ihr Abitur bestanden. Das wollen sie feiern. Gemeinsam. Christen, Muslime, Jesiden. Die Momentaufnahme entsteht vor 25 Jahren in Sere Kanyie.
Die 40.000-Einwohner-Stadt liegt im Norden Syriens, an der Grenze zur Türkei. Eine Stadt, in der Menschen unterschiedlichster Herkunft viele Jahrhunderte lang miteinander lebten, sagt Ekrem Heydo. Bis vor knapp fünf Jahren der Bürgerkrieg in Syrien ausbricht. Seitdem ist auch in Sere Kanyie nichts mehr, wie es einst war:

"Als Kind war das selbstverständlich, der eine ist Jeside, der andere Moslem. Es gab Konflikte, das ist nicht so, dass alles war wie im Paradies. Es hat funktioniert, das hieß, die Menschen konnten eine Form finden, wie man miteinander lebt."
Das Klassenfoto hängt heute an der Wand in Ekrem Heydos Berliner Altbauwohnung. Der Dokumentarfilmer, der selber Jeside ist, lebt seit vielen Jahren in Deutschland. Als ihm der Schnappschuss vor drei Jahren zufällig in die Hände fällt, ist sein erster Impuls: Was ist eigentlich aus den Klassenkameraden geworden?

Wie im falschen Film

Dem orthodoxen Christen "Mark", der wunderbar Saxophon gespielt hat, dem arabischen Schulfreund "Izzedin", der immer so gerne gesungen hat, oder dem Kurden Imad, mit dem er besonders gut befreundet war. Und warum ist ein friedliches Miteinander so wie damals heute scheinbar so unmöglich?

Der 43-jährige begibt sich auf Spurensuche. Packt seine Kamera ein:
"Als ich das erste Mal dort war, da war die Stadt zur Hälfte noch unter islamistischen Truppen, IS, Al-Nusra. Die Menschen waren total schockiert, die dachten, sie wären in einem falschen Film."
Er riskiert sein Leben, als er in der Nacht über die streng bewachte syrisch-türkische Grenze rennt. "Wir hatten nur wenige Minuten", erinnert er sich. Doch die alten Freunde aufzuspüren, das war und ist ihm fast jedes Risiko wert:
"Mein Herz schlägt immer, wenn ich dort bin. Durch den Film, den ich mache, kann ich vielleicht ein Stück der Heimat näher kommen."

Und den Antworten auf die Fragen, die ihn quälen. Sind seine Klassenkameraden Freunde oder Feinde? Er trifft Hussein Shekho. Der kurdische Freund ist in Sere Kanyie geblieben.
"Er war ein intelligenter Schüler, ein guter Fußballer, an die beiden Sachen kann ich mich erinnern. Chemie, Mathe, letztendlich ist er Biologielehrer geworden. Also, ich habe großen Respekt vor ihm, weil er einer der wenigen ist, die nicht raus wollen. Er sagt, solange das geht, werde ich das alles nicht über Bord werfen. Außerdem, was soll ich woanders machen."

Von Islamisten gefoltert

Hussein Shekho trotzt dem Krieg und den Milizen des sogenannten Islamischen Staates und den Rebellen der "Freien Syrischen Armee". Auch als sie mordend und plündernd durch seine Heimatstadt ziehen. Zumindest körperlich bleibt er unversehrt. Viel schlimmer trifft es den gemeinsamen Schulkamerad "Mark". Der orthodoxe Christ wurde von Islamisten entführt und gefoltert. Als Ekrem Hedyo ihn trifft, bleibt der Freund stumm.
All das erzählt er in seinem Dokumentarfilm mit dem Titel "Mein Paradies". Dabei gibt es das in Sere Kanyie längst nicht mehr. Oder hat es nie gegeben. Ein dritter Klassenkamerad, ein Kurde, erfährt Ekrem Hedyo durch seine Recherchen, wird hinterrücks erschossen. Und ein vierter schließt sich den Islamisten an. Überall sind die Spuren des einst friedlichen Miteinanders ausgelöscht. In dem Paradies, in dem einst Menschen mit unterschiedlichen Religionen Seite an Seite zusammenlebten, sagt der 43-jährige.
Heute interpretiert er die Ereignisse so: Die Diktatur unter Assad hat uralte Feindschaften und Ängste unterdrückt. Der politische Druck war groß. Er erinnert sich gut an die Warnungen seines Vater:
"Überall war die Baath-Partei. Man sieht es auch in dem Film: Araber sind eine Nation mit einer ewigen Vision! Dieses Motto hat man überall gesehen, ob das jetzt auf den Wänden an der Straße war, in irgendwelchen Ämtern, in den Schulen und Unis."
Im seinem Film ist darum die Rede von "Gehirnwäsche". Von nicht aufgearbeiteten historischen Ereignissen wie der Grenzziehung zwischen Syrien und der Türkei nach dem ersten Weltkrieg. Von allem der Genozid an den Armeniern habe seine Heimat auseinander gerissen, glaubt der 43-Jährige:

"Ein Teil der Bevölkerung, die noch in Sere Kanyie lebt, das waren Verbrecher, also unsere Großväter. Die haben mitgemacht, aktiv. Aber es wurde alles so … Wir reden lieber nicht darüber, es existiert nicht, wir versuchen das aus unserem Gedächtnis auszuradieren."

Scheinbar herrscht Frieden

Der Film ist inzwischen abgedreht, Ekrem Heydo ist jetzt auf der Suche nach einem Filmverleih. Regelmäßig telefoniert er mit Freunden in Sere Kaniye. Zum Beispiel mit Imad Ibed. Der Klassenkamerad ist mit einer Araberin verheiratet. Sie haben eine kleine Tochter. Für den Dokumentarfilmer aus Berlin verkörpert diese Familie sein verloren gegangenes Paradies, in dem ein friedliches Zusammenleben von Christen, Muslimen und Jesiden noch immer möglich ist.
Er rät dem Freund zu bleiben, solange es geht. Sere Kaniye ist jetzt unter kurdischer Kontrolle. Scheinbarer Frieden ohne normales Leben. Essen ist knapp, das Geld nichts wert, Jobs gibt es kaum. Ich lasse euch nicht allein, verspricht er dem kurdischen Freund, der tausende Kilometer entfernt zwischen zerstörten Häusern steht. Bald wird Ekrem Heydo mit seiner Kamera wieder in die alte Heimat reisen. Der heimische Duft von Erde und würzigen Gräsern steckt ihm in Nase.
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