Doch eine Richtungswahl!

Von Klaus Schroeder |
Die kommende Bundestagswahl ist die wichtigste seit vielen Jahren. Sie könnte wie die Wahlen von 1949, 1969 und 1990 mit einer Zäsur in der gesellschaftlichen Entwicklung unseres Landes verbunden sein. Ging es 1949 um die Alternative nationaler Sozialismus oder soziale Marktwirtschaft, 1969 um die Befürwortung der Entspannungspolitik und des flächendeckenden Ausbaus des Sozialstaates und 1990 um die Legitimierung der schnellen Vereinigung und des eingeschlagenen konsumorientierten Transformationspfades, geht es diesmal um die Entscheidung für oder gegen radikale Reformen, um konkurrierende Modelle für den Abbau der Massenarbeitslosigkeit, die Sicherung von Wohlstand und den Umbau des Sozialstaates.
Angela Merkel wird wohl im Oktober zur Kanzlerin gewählt werden, sei es von einer großen oder einer schwarz-gelben Koalition. Allerdings steht nur die letztere Variante für einen tatsächlichen Kurswechsel. Hier könnte Merkel als Kanzlerin ihre vermeintlichen Schwächen in Stärken umsetzen: Sie verzichtet im Wahlkampf auf einen Ost- und Frauen-Bonus, nimmt nur bedingt Rücksicht auf gewachsene Machtstrukturen in den Unionsparteien und scheut sich nicht, unkonventionelle und unbequeme Quereinsteiger in ihr Team aufzunehmen.

Und Merkel wird unterschätzt, nicht nur hinsichtlich ihrer politischen Kompetenz, sondern auch in ihrer norddeutschen Beharrlichkeit. Schon die Berufung eines Ostdeutschen in das mächtigste politische Amt der Bundesrepublik käme einer kleinen Kulturrevolution gleich. Dass dies nun wahrscheinlich sogar einer in Honeckers Reich sozialisierten Frau gelingt, stellt eine schwere argumentative Herausforderung für rot-grüne FrauenpolitikerInnen dar. Wie konnte das nur geschehen, nicht in ihrer, sondern in einer überhaupt nicht progressiven, halbwegs konservativen Partei, auch noch ganz ohne Frauenquote?

Ob Merkel freilich die Kraft und den Mut haben wird, gegen alle jetzt schon sichtbaren Widerstände außerhalb und innerhalb ihrer Partei die notwendigen Kurskorrekturen durchzusetzen, wird sich erst in zwei Jahren erweisen. Stellen sich erste, vor allem arbeitsmarktpolitische Erfolge ein, wird sie weiterhin fest im Kanzlersattel sitzen, bleiben diese aus, werden potenzielle Nachfolger mit ihrer Demontage beginnen.

Doch die Wahl wird über den Regierungswechsel hinaus weitere Auswirkungen vor allem auf der linken Seite des politischen Spektrums haben. Tritt die SPD in eine Koalition mit der Union ein, wird die derzeit überschätzte "Mogelpackung" Linkspartei, die im Kern weiterhin die PDS ist, wirklich an Zustimmung gewinnen. Die Grünen müssen dann eine Position jenseits des Linkspopulismus finden, um den eigenen Untergang zu vermeiden. Bei einer schwarz-gelben Koalition könnten Linkspartei und SPD entweder organisatorisch verschmelzen oder die SPD durch einen Linksruck der an der Basis immer noch DDR-bezogenen Sozialistischen Einheitspartei neuen Typs das politisch-ideologische Wasser abgraben.

Welche Konstellation nach der Wahl auch immer regieren wird, die Folgen für die politische Landschaft werden erheblich sein. Schon jetzt übt die Linkspartei einen verhängnisvollen Einfluss aus, wie anhand der Wahlprogramme von SPD und Grünen zu sehen ist. Beide noch regierenden Parteien haben sich mehr oder weniger deutlich von ihrer Agenda 2010 verabschiedet und für den unwahrscheinlichen Fall eines Wahlsieges mehr "soziale Wohltaten" in Aussicht gestellt. Anscheinend können Parteien nicht auf längere Sicht Politik gegen die Stimmung ihrer eigenen Basis betreiben, wie im Falle der rot-grünen Regierung in den letzten Jahren geschehen. Dies gilt erst recht, wenn schnelle Erfolge ausbleiben.

Die rot-grüne Bundesregierung ist nicht an der prinzipiellen Unlösbarkeit der Probleme, sie ist an sich selbst gescheitert. Dies betrifft vor allem ihr Unvermögen, den Bürgern deutlich zu machen, wofür diese die mitunter schmerzhaften aber unumgänglichen Einschnitte in Kauf nehmen müssen. Opferbereitschaft kann nur entstehen, wenn Zusammengehörigkeitsgefühl und Zuversicht vorhanden sind.

Das erste Ziel der neuen Bundesregierung muss deshalb darin bestehen, das Vertrauen der Bürger in die Politik und in die eigene Kraft wiederherzustellen. Am Anfang müssen - stärker noch als jetzt im Wahlkampf – eine schonungslose, ehrliche Bilanz erstellt und klare ordnungspolitische Ziele formuliert werden. Die Bürger sollten endlich wissen, woran sie sind und was auf lange Sicht unausweichlich auf sie zukommt. Sie müssen erkennen, dass das Schicksal ihres Landes auf dem Spiel steht. In den kommenden Jahren wird sich entscheiden, ob Deutschland wieder zu den führenden Industrienationen aufschließen kann oder auf Dauer in der Drittklassigkeit versinken wird. Es ist gut möglich, dass Angela Merkel an dieser Herkulesaufgabe scheitert, aber sie sollte es wenigstens versuchen und nicht vorschnell in den gewohnten Trott der Wahrung politischer Traditionsbestände und Hierarchien zurückfallen.


Der 1949 in Lübeck geborene Klaus Schroeder lehrt an der Freien Universität Berlin Politische Wissenschaft. Der habilitierte Sozialwissenschaftler leitet an der FU den Forschungsverbund SED-Staat und die Arbeitstelle Politik und Technik. Letzte Veröffentlichungen: "Der SED-Staat. Partei und Gesellschaft 1949 - 1990", Hanser-Verlag, München 1998; "Der Preis der Einheit. Eine Bilanz", Hanser-Verlag, München 2000. "Rechtsextremismus und Jugendgewalt in Deutschland. Ein Ost-West-Vergleich", Schöningh-Verlag, Paderborn 2004.