"Es ist schwer, aus der Unterschicht herauszukommen"
Einkommen und Bildungsgrad der Eltern entscheiden in Deutschland maßgeblich über die Chancen ihrer Kinder, sagt Marcel Fratzscher. Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung fordert mehr Aufmerksamkeit und Geld für die frühkindliche Bildung.
Die soziale Lage werde in Deutschland immer häufiger vererbt, sagte DIW-Präsident Marcel Fratzscher im Interview mit Deutschlandradio Kultur.
"Das bedeutet, die Chancen für ein Kind im Leben erfolgreich zu sein – das kann über Bildung sein, das kann über Beruf, das kann über Einkommen sein –, hängt immer stärker von dem der Eltern ab."
Aus Studien wisse man, dass die Hälfte des Einkommens der Kinder durch den Bildungsgrad und das Einkommen der Eltern bestimmt wird. Es gebe eine extrem starke Pfadabhängigkeit. Die Chancengerechtigkeit sei in Deutschland gering. In einigen Indikatoren sogar geringer als in den USA.
"Das heißt, wenn Sie einmal in der Unterschicht gelandet sind, ist es ungleich schwerer, heute da herauszukommen. Und das ist, was mir als Ökonom, als Wissenschaftler, Sorgen macht: Die Menschen haben nicht mehr die gleichen Chancen, etwas aus ihren Möglichkeiten zu machen."
Marcel Fratzscher, geboren 1971 in Bonn, ist Professor für Makroökonomie an der Humboldt-Universität zu Berlin und Präsident des Deutschen Institus für Wirtschaftsforschung (DIW). Zuvor arbeitete er bei der Europäischen Zentralbank (EZB). Fratzschers Forschungsschwerpunkte sind Makroökonomie, monetäre Ökonomie, Finanzmärkte und globale Wirtschaft. Buchveröffentlichungen u.a.: "Die Deutschland-Illusion" und "Verteilungskampf".
Das Interview im Wortlaut:
Deutschlandradio Kultur: Wenn man sich mit der sozialen und wirtschaftlichen Lage Deutschlands beschäftigt, dann kann man leicht ins Schleudern kommen. Denn für die einen steht ja das Land so gut da wie noch nie. Für die anderen fehlt fast nur noch der eine buchstäbliche Schritt bis zum Abgrund. Die einen sagen, es gibt immer mehr Arme. Die anderen sagen, es geht allen viel besser als jemals zuvor, so dass man sich ja schon fragt: Wie passt das zusammen und welchen Einfluss haben Armut, Reichtum, ob jetzt gefühlt oder real, auch auf die politische Diskussion im Land? Leben wir in einer Klassengesellschaft? Und wenn ja, ist das schlecht?
Das sind einige der Fragen, um die es in der kommenden Stunde gehen soll. Und zu Gast ist der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Professor Marcel Fratzscher, der vor Kurzem ein Buch veröffentlich hat unter dem Titel "Verteilungskampf". Herzlich willkommen, Herr Fratzscher!
Marcel Fratzscher: Guten Abend.
Deutschlandradio Kultur: Interviews mit Wirtschaftswissenschaftlern machen mich immer etwas schwindlig, muss ich Ihnen gestehen, weil man sich ja offenkundig nicht auf die Zahlen oder zumindest auf die Darstellung der Zahlen wirklich verlassen kann. Ich habe immer so das Gefühl, je nach dem mit wem ich spreche, lebe ich in einem komplett anderen Land. Woran liegt das?
Wesentliche Frage: Wie wollen wir den Wohlstand verteilen?
Marcel Fratzscher: Die Zahlen sind meistens eigentlich verlässlich, die wir Forscher uns anschauen. Es ist die Interpretation, die unterschiedlich ist. Nehmen Sie ein Beispiel. Es geht ja gerade um die Frage der Ungleichheit, um Armut, um Reichtum. Einige sagen, die Ungleichheit der Einkommen ist zwischen den 50er-Jahren und 2005 massiv angestiegen. Aber seit 2005 ist diese Ungleichheit nicht weiter gestiegen. Jetzt sagen einige Forscher, einige meiner Kollegen: Ist doch alles super. Seit 2005 ist die Ungleichheit der Einkommen nicht weiter gestiegen in Deutschland. Eine andere Interpretation der gleichen Zahlen wäre zu sagen: Ja aber, ist das wirklich gut, dass wir in Deutschland immer noch am historischen Höchststand der Ungleichheit der Einkommen verbleiben? Also, es sind die gleichen Zahlen, aber völlig unterschiedliche Vergleichsgrößen.
Was ist unser Anspruch? Und das ist ja eigentlich die wichtige Frage für uns als Gesellschaft: Was ist unser Anspruch? Wie wollen wir leben? Wie wollen wir den Wohlstand, den wir im Land erarbeiten, verteilen? Und dazu kann man komplett einen unterschiedlichen Anspruch und unterschiedliche Interpretation haben.
Deutschlandradio Kultur: Mit diesen Statistiken ist immer die Frage: Womit vergleiche ich es, mit 2005, mit 2004, mit 1950, mit welchen anderen Ländern vergleiche ich es? Und, wie Sie gerade sagten, was ist der Anspruch? Also, dahinter steht ja eine politische Idee, um jetzt nicht zu sagen Ideologie, die man hat, wie eine Gesellschaft sein sollte. Ja?
Marcel Fratzscher: Nein. Die Wirtschaftswissenschaftler können eigentlich zum Thema der Gerechtigkeit überhaupt nichts sagen. Also, zur politischen Idee sollten wir auch nichts sagen. Unser Anspruch, unsere Aufgabe als Wissenschaftler ist nicht Meinungen zu verbreiten, sondern zu analysieren, was ist und wie könnte es sein, und dann der Politik oder den Menschen, der Gesellschaft das zur Verfügung stellen und sagen: So, jetzt habt ihr die Information, jetzt könnt ihr wählen.
Was mich als Wissenschaftler interessiert, ist nicht die Frage, ist das fair oder nicht fair. Jeder empfindet das anders von uns. Sondern für mich ist die Frage: Wie wirkt sich die Ungleichheit auf die Wirtschaft, also auf das Wachstum, auf den Wohlstand, auf Gesundheit, auf Armut, auf viele verschiedene Dimensionen aus? Und das zu verstehen, das ist meine Aufgabe. Das kann ich dann der Politik geben und sagen, schaut mal her, das ist, was wir wissen. Jetzt könnt ihr entscheiden, welche Wahl ihr treffen wollt, aber hoffentlich eine besser informierte Wahl.
"Medien versuchen immer, uns zu verorten"
Deutschlandradio Kultur: Aber das ist doch eine sehr idealtypische Darstellung. Man weiß, das eine Institut gilt eher als links, das andere eher als rechts. Die einen gelten eher als arbeitgebernah, die anderen eher als arbeitnehmernah. Dass da keine politischen Ideen im Hintergrund am Werke sind, das kann ich mir nicht vorstellen.
Marcel Fratzscher: Es sind gerade die Medien, die uns immer verorten wollen. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung ist weder links noch rechts noch in der Mitte, sondern unsere Aufgabe ist, Themen zu analysieren. Und natürlich versuchen die Medien uns in irgendeine Schublade zu stecken. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung, DIW Berlin, das ich als Präsident leite, macht zum Beispiel unheimlich viele Verteilungsanalysen, weil wir einen einzigartigen Datensatz haben. Wir haben 30.000 Menschen, die wir jedes Jahr befragen.
Deutschlandradio Kultur: Das Sozioökonomische Panel.
Marcel Fratzscher: Das sozioökonomische Panel, das sogenannte SOEP, was fantastisch, einmalig in der Welt ist.
Und es wird in der öffentlichen Wahrnehmungen, wenn Sie über Verteilungsfragen sprechen, also, wie ist etwas verteilt, dann wird das sofort als politisch links wahrgenommen, was eigentlich Quatsch ist. Jede Partei, jeder Mensch, egal auf welchem politischen Spektrum er oder sie ist, behandelt letztlich Verteilungsfragen.
Und Sie haben Recht, natürlich versuchen wir Wissenschaftler so objektiv wie möglich zu sein, auch wenn es uns nicht immer komplett gelingt. Aber es muss der Anspruch sein, dass wir so objektiv wie möglich neutral informieren, Debatten mit begleiten, aber wir sind keine Politiker. Das dürfen wir auch nicht sein. Wir müssen eine gesunde Distanz halten. Aber gerade auch wir als Wissenschaftler müssen auch eine kritische Gegenstimme gegenüber der Politik sein. Wir müssen Kontrolle ausüben können, sagen können, das, was die Politik hier erzählt, ist einfach faktisch falsch. Das stimmt nicht mit den Fakten überein.
"Ungleichheit per se ist weder gut noch schlecht"
Deutschlandradio Kultur: Dann bleiben wir mal bei dem Punkt Ungleichheit. Das ist, wie Sie sagen, unstrittig, in Deutschland gibt es eine Ungleichheit der Vermögen, der Einkommen, der Lebenserwartung usw. Nun kann man ja diese Ungleichheit, wie Sie auch sagten, verschiedenen beurteilen, schon alleine von politischen Traditionen her, in Deutschland, in den USA wird Ungleichheit an sich schon mal ziemlich verschieden betrachtet.
Was sagt denn nun der Wirtschaftswissenschaftler dazu? Ist ökonomische Ungleichheit gut oder schlecht für eine Gesellschaft? Man könnte ja auch sagen, das ist genau richtig, das setzt nämlich den Ansporn, es besser zu machen.
Marcel Fratzscher: Ganz genau. Ungleichheit aus einer ökonomischen Perspektive ist per se weder gut noch schlecht. Nehmen Sie den Vergleich, das werden mir vielleicht jetzt manche übel nehmen, den Vergleich mit der DDR: sehr gleiche Verteilung, klar, da gab es ein paar Parteibonzen, denen es besser ging, aber ein großer Teil der Bevölkerung hatte mehr oder weniger das gleiche Einkommen, ähnlichen Lebensstandard.
Westdeutschland dagegen hat sehr viel mehr Ungleichheit gehabt. Aber selbst hier hat der, der am unteren Ende der Verteilung war, immer noch in der Regel einen besseren Lebensstandard gehabt, mehr Einkommen gehabt, konnte sich mehr leisten als jemand, der im Durchschnitt in der DDR war.
Das zeigt so ein bisschen diesen Konflikt. Also, was ist Ihnen wichtiger, dass alle gleich viel haben, aber alle gleich wenig haben eigentlich? Oder wollen wir eine Marktwirtschaft haben, die Wohlstand für alle schafft? Das ist ja das Ideal der Sozialen Marktwirtschaft von Ludwig Erhard, dass dieser Wohlstand, eine Marktwirtschaft …
Deutschlandradio Kultur: Also, wir wollen nicht wenig für alle, sondern viel für alle? Das ist natürlich …
Marcel Fratzscher: Wir wollen den Kuchen so groß wie möglich machen. Wie dieser Kuchen nachher verteilt wird, das ist dann natürlich die strittige Frage. Aber zuerst einmal geht es ja darum, sich nicht um das Stück Kuchen zu streiten und versuchen das aufzuteilen, sondern zuerst einmal sollte es um die Idee gehen, wie können wir den großen Kuchen größer machen, so dass alle mehr haben.
Eine Marktwirtschaft bedeutet ganz klar höhere Ungleichheit. Das ist nicht unbedingt schlecht, das ist sogar wichtig, weil manche Leute sagen, ich möchte mich selbständig machen, ich möchte ein Risiko eingehen, ich möchte mich engagieren. Und wenn diese Menschen Erfolg haben, dann muss dieser Erfolg auch honoriert werden. Und dann ist es gut, wenn diese Menschen, die sich selbständig machen, die vielleicht viele Arbeitsplätze schaffen für andere, also auch Wohlstand für andere schaffen, wenn die dann dafür auch belohnt werden, genauso wie, wenn jemand scheitert als Unternehmer, dann natürlich die Kosten hat.
Also, Ungleichheit per se ist sogar notwendig für eine Marktwirtschaft, aber es wird dann schädlich für ein Land, wenn diese Ungleichheit nicht mehr das Resultat einer funktionierenden Marktwirtschaft ist, sondern weil einige Menschen aus diesem Wettbewerb, aus diesem Markt verdrängt werden. Genau das ist meine Sorge heute über Deutschland.
Voraussetzung für fairen Wettbewerb: gleiche Bildungschancen
Deutschlandradio Kultur: Aber was heißt dann "verdrängt werden"? Das ist doch auch etwas, was zum Wettbewerb gehört. Die einen gewinnen, die anderen verlieren.
Marcel Fratzscher: Marktwirtschaft heißt erst einmal ein fairer Wettbewerb. Das heißt aber auch für jeden einzelnen Menschen von uns, dass er oder sie von klein auf die Chance bekommt, erstmal eine gute Bildung zu bekommen, eine gute Ausbildung, eine gute Qualifizierung zu bekommen, eine faire Chance im Arbeitsmarkt zu bekommen.
Im Bildungsbereich sind die Chancen extrem ungleich verteilt. Das heißt, ein Kind, das heute in eine Familie geboren wird, bei denen die Eltern keinen guten Bildungsstand haben, bildungsfern sind, sozial schwach sind, geringe Einkommen haben, vielleicht noch in einem Kiez leben oder in einer Nachbarschaft, die finanziell oder auch sozioökonomisch schwächer ist, dann sind eigentlich schon vom ersten Lebensjahr an die Chancen für dieses Kind viel, viel schlechter als für das von den genetischen Veranlagungen her das gleich Kind, sagen wir mal, im Grunewald oder nehmen Sie jede andere Stadt in Deutschland, also, in einer sehr wohlhabenden Nachbarschaft, mit Eltern, die einen guten Bildungsabschluss haben, die finanziell gut aufgestellt sind.
Deutschlandradio Kultur: Das heißt im Grunde genommen die soziale Lage wird vererbt.
Marcel Fratzscher: Die soziale Lage wird in Deutschland immer häufiger vererbt. Das bedeutet, die Chancen für ein Kind im Leben erfolgreich zu sein – das kann über Bildung sein, das kann über Beruf, das kann über Einkommen sein –, hängt immer stärker von dem der Eltern ab.
Das heißt ganz konkret, das ist ein Beispiel: Wir wissen heute aus Studien meiner Kollegen aus dem DIW Berlin, dass die Hälfte des Einkommens der Kinder durch den Bildungsgrad und das Einkommen der Eltern bestimmt wird. Also eine extrem starke Pfadabhängigkeit. Und die ist übrigens höher in Deutschland als in den USA. Das heißt also, Chancengerechtigkeit, Chancengleichheit ist in Deutschland gering. Und sie ist sogar noch geringer, in manchen Indikatoren zumindest, als was in der USA der Fall ist.
Deutschlandradio Kultur: Würden Sie sagen wie manch andere, dass Deutschland heute eine Klassengesellschaft ist?
Marcel Fratzscher: Deutschland war immer eine Klassengesellschaft, genau wie fast jedes andere Land auch, und wird es auch immer sein. Eine Klassengesellschaft, da ist per se erstmal nichts negativ dran.
Schrumpfende Mittelschicht und geringe soziale Mobilität
Deutschlandradio Kultur: Das sagen Sie so. Wir waren doch mal, die Westdeutschen, ganz stolz darauf, dass wir in einer "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" lebten. Das klang gar nicht nach Klassengesellschaft. Sie sagen, war immer und wird immer eine sein?!
Marcel Fratzscher: Natürlich wird es immer wohlhabende Menschen geben, denen es sehr gut geht, die halt nicht in dieses Muster passen. Und es wird auch immer relativ arme Menschen geben. Das Problem in Deutschland ist zweierlei: Zum einen, dass diese Mittelschicht schrumpft, das sehen wir aus vielen Studien. Es gibt eine Polarisierung, es gibt immer mehr Arme und immer mehr Reiche. Diese Menschen, die so ein mittleres Einkommen haben, wird immer kleiner.
Deutschlandradio Kultur: Rund sechzig Prozent sind es heute in Deutschland noch.
Marcel Fratzscher: Es sind sechzig Prozent. Es waren mal fast achtzig Prozent. Und der Trend ist sehr, sehr rapide schrumpfend. Das ist das eine Problem. Also, die Mittelschicht schrumpft.
Das zweite und das für mich eigentlich viel entscheidendere ist nicht, gibt es Klassen, gibt es Unterscheidungen, sondern haben die Menschen wirklich eine Chance, ihre eigenen Fähigkeiten und Talente zu entwickeln? Hier ist die soziale Mobilität in Deutschland relativ gering im internationalen Vergleich. Und sie ist gesunken.
Das heißt, wenn Sie einmal in einer Gruppe drin sind, wenn Sie einmal in der Unterschicht oder wo auch immer gelandet sind, ist es ungleich schwerer heute, da rauszukommen. Und das ist, was mir als Ökonom, als Wissenschaftler Sorge macht. Die Menschen haben nicht mehr die gleichen Chancen, wirklich etwas aus ihren Möglichkeiten und ihren Fähigkeiten zu machen.
"Die ersten drei Jahre im Leben sind entscheidend"
Deutschlandradio Kultur: Zu dem, was Sie gerade gesagt haben, dass Sie sich vor allem Sorge machen, weil die Chancen so ungleich verteilt sind, passt eine Umfrage, von der ich gelesen habe. In der Psychologie spricht man ja von self fulfilling prophecy. Und in dieser Umfrage geht es darum, dass nur ein Fünftel der unter 30jährigen, die aus sozial schwachen Verhältnissen kommen, nur ein Fünftel derjenigen meint, dass man es heute in Deutschland mit Anstrengung zu etwas bringen könne. Das finde ich besonders erschreckend vor dem Hintergrund, weil das ja heißt, dass vier Fünftel es nicht einmal versuchen werden.
Marcel Fratzscher: Das heißt es nicht unbedingt. Vielleicht strengen sich die vier Fünftel ja auch an. Nur sie schaffen es mit der eigenen Anstrengung nicht. Und das ist ja genau der Punkt. Wenn man sich anschaut, was bestimmt denn die Lebenschancen eines Dreißigjährigen heute? Es fängt im ersten Lebensjahr an. Und wir wissen, die ersten sechs Jahre im Leben sind eigentlich entscheidend. Man kann sogar sagen, die ersten drei Jahre im Leben sind entscheidend.
Das bedeutet jetzt aus Ökonomensprache: Jeder Euro, den der Staat, die Gesellschaft in Bildung investiert, ist viel, viel, viel besser angelegt in einen ganz jungen Menschen in den ersten drei Lebensjahren zu investieren, als in einen Menschen, der 25 ist und an der Universität ist. Und gerade da ist die große Schwäche in Deutschland. Wir nehmen diese frühkindliche Bildung immer noch nicht ernst genug. Da ist einiges passiert, Verbesserung von Kita-Plätzen usw., aber immer noch zu wenig.
Und meine Hauptsorge ist: Das, was der Staat für Bildung ausgibt, ja, ist gerade für die Menschen, die aus sozial schwachen Hintergründen kommen, einfach viel zu wenig.
Wenn Sie einmal auf der Hauptschule gelandet sind im Alter von zehn, von zwölf, von dreizehn, ist es unglaublich schwierig, noch Realschulabschluss oder ein Gymnasium zu machen. Also, auch das Schulsystem, das Bildungssystem ist einfach nicht durchlässig genug. Sprich: Die eigene Anstrengung ist natürlich wichtig, aber wir wissen, dafür brauche ich eine starke Familie, die das Kind unterstützt, und dafür brauche ich ein Bildungssystem, einen Staat, der sein Seines tut. Und hier werden die Unterschiede in Deutschland einfach sehr früh sehr groß und die Chancengleichheit sehr stark begrenzt.
Deutschlandradio Kultur: Das finde ich ja schön, dass Sie sich in diesem Punkt mit Ihrem Kollegen Clemens Fuest, dem Chef des Ifo-Instituts, einig sind, da Sie sich ja ansonsten in der Analyse von Ungleichheit und Armut und Reichtum nicht unbedingt immer einig sind. Aber der sagt ja auch: Das ist vollkommen widersinnig, das Studium ist gratis in Deutschland und für Kindertagesstätten werden happige Gebühren erhoben. Es sollte genau umgekehrt sein.
Marcel Fratzscher: Absolut richtig. Wir haben ein sehr elitäres Bildungssystem noch immer. Man sieht das darin, dass siebzig Prozent der Akademikerkinder zur Uni gehen. Nur zwanzig Prozent der Nichtakademikerkinder gehen zur Uni. Also, wir brauchen hier ein ganz grundlegendes Umdenken im Bildungssystem in Deutschland.
Die Kinder. Es gibt eine ganze Reihe von Kindern, die einfach bessere Förderung, bessere Betreuung brauchen. Und da scheitert der Staat dran, diesen Kindern diese Unterstützung zu geben.
Staat muss Kindern ermöglichen, ihre Talente zu entwickeln
Deutschlandradio Kultur: Nochmal zu diesem Punkt der Ungleichheit. Wenn Sie sagen, Ungleichheit per se ist nicht schlecht, Deutschland war und ist eine Klassengesellschaft, das ist auch per se nicht schlecht. Es gibt Professoren wie Sie, es gibt Radioredakteure, es gibt Hausmeister, Ärzte, Friseure, Reinigungskräfte brauchen wir auch. Es gibt ja alle diese Positionen und Posten, die im Allgemeinen auch für das Funktionieren einer Gesellschaft notwendig sind. Sie meinen doch jetzt sicher nicht, dass jetzt alle Abitur machen sollten und studieren, oder?
Marcel Fratzscher: Sicherlich nicht, obwohl mehr Abitur machen könnten und mehr studieren könnten. Aber im internationalen Vergleich gehen in Deutschland immer noch relativ wenige Kinder zur Universität.
Deutschlandradio Kultur: Schwieriger Vergleich mit den Bildungssystemen, nochmal zu diesem Punkt: Brauchen wir keine Friseure mehr, keine Handwerker, keine Postboten?
Marcel Fratzscher: Natürlich, wir brauchen all diese Berufe. Die Frage geht ja erstens Mal darum: Haben die Menschen wirklich eine freie Wahl? Es geht hier also um das Konzept Freiheit. Die Idee hinter einer dynamischen Wirtschaft und einer erfolgreichen Gesellschaft ist, dass Menschen ihre Talente, Fähigkeiten entwickeln können. Das heißt, auch Wahlmöglichkeiten zu haben, zu sagen, ich kann wählen, was ich machen möchte. Aber wenn Gesellschaft und Staat Ihnen als Kind, als Jugendlicher, als junger Erwachsener jede Chance nimmt, diese Talente zu entwickeln, dann habe ich diese Wahlmöglichkeiten nicht.
Das ist jetzt ein Drama für diesen Menschen selber, der vielleicht durchaus die Talente und Fähigkeiten gehabt hätte, einen höheren Bildungsgrad zu erlangen, aber es verursacht auch ganz konkret Kosten für die gesamte Gesellschaft. Denn wenn ein Mensch die eigenen Fähigkeiten entwickeln kann, sich besser einbringen kann, dann hilft er ja nicht nur sich selber, sondern dann hilft er auch der gesamten Gesellschaft.
Das ist so eines der Kernargumente meines Buches: Mehr Chancengleichheit, bessere soziale Mobilität hat nicht nur die Vorteile für den Menschen selber, der davon profitiert, sondern es hat einen Vorteil für die gesamte Gesellschaft, auch für den reichsten Unternehmer, der profitiert ja auch davon, dass er ja Arbeitskräfte hat, die besser qualifiziert sind, die sich besser einbringen können.
Vielleicht noch ein zweiter Punkt dazu, wenn ich darf: Schauen Sie sich an die Menschen, die heute Schwierigkeiten haben in den Arbeitsmarkt zu kommen oder Jobs zu behalten, die schlecht bezahlte Jobs haben. Es sind fast vier Millionen, die um den Mindestlohn von 8,50 Euro im Augenblick noch verdienen. Wir wissen aus vielen Studien, auch vom DIW Berlin, dass das Menschen sind, die zum größten Teil keine Berufsausbildung haben, häufig noch nicht mal einen Schulabschluss haben.
Natürlich brauchen wir Menschen, die auch Friseurin machen oder…
Deutschlandradio Kultur: …die haben aber eine Ausbildung und einen Schulabschluss.
Marcel Fratzscher: Ganz genau. Es geht darum, auch diesen Menschen, und es werden immer mehr Menschen in Deutschland, das notwendige Rüstzeug zu geben, Ausbildung, Qualifizierung zu geben, dass sie in den Arbeitsmarkt kommen, einen Job bekommen. Hier geht’s nicht drum, so viel Geld wie möglich zu verdienen. Jeder hat andere Lebensziele und das ist gut so. Aber man muss den Menschen zumindest dieses Grundrüstzeug, diese Grundvoraussetzung geben, am gesellschaftlichen und am wirtschaftlichen Leben teilnehmen zu können.
Politik muss sich der Armut widmen
Deutschlandradio Kultur: Also, es ist gesamtgesellschaftlich, ökonomisch betrachtet, nicht gut, wenn es eine nennenswerte Gruppe von wirtschaftlich sozial schwachen Menschen gibt. Das ist ein Punkt, den Sie machen. Man hätte ja auch denken können, für die gesamte Gesellschaft ist es ganz bequem, wenn wir da so ein paar Leute haben, die für jeden Hungerlohn jede Arbeit machen.
Wie ist es denn politisch gesehen? Welche Folgen hat das für die gesamte Gesellschaft, wenn es so eine große Gruppe von – ich sage mal – Abgehängten gibt?
Marcel Fratzscher: Es ist auch politisch ein riesiges Problem, dass wir in Deutschland diese zunehmende Ungleichheit haben – bei Einkommen, aber auch bei Vermögen – aus vielerlei Gründen. Zum einen schafft es ein Armutsproblem, also wirklich ein Problem, bei dem sich die Politik, die Gesellschaft nicht mehr raushalten kann, sondern Verantwortung übernehmen muss.
Wir sehen es gerade in vielen strukturschwächeren Regionen, dass immer mehr Menschen vom Staat abhängig werden. Das ist das Resultat der steigenden Ungleichheit.
Wir haben in Ostdeutschland vierzig Prozent der Haushalte, mehr als jeder dritte Haushalt, der die Hälfte oder mehr des Einkommens durch staatliche Transferleistungen erhält, also und mit der eigenen Hände Arbeit gar nicht mehr genug erwirtschaften kann, erzielen kann, um sein Leben zu leben und einen ordentlichen Lebensstandard zu haben.
Das führt dazu, dass es natürlich eine unglaubliche Abhängigkeit vom Staat gibt. Immer mehr Menschen sind abhängig vom Staat. Das möchte kein Mensch.
Deutschlandradio Kultur: Ich habe da jetzt eine andere Zahl. Lars Feld und Christoph Schmidt, zwei Mitglieder des Sachverständigenrats, die halten die Mindestsicherungsquote für aussagekräftiger insgesamt, also, den Anteil der Empfänger von diesen Mindestsicherungsleistungen Alg II usw., Beihilfen zum Wohnungsunterhalt. Und diese Quote ist gesunken in den letzten zehn Jahren.
Marcel Fratzscher: Das kann man gut oder schlecht sehen. Jetzt kann man sagen, dass das, was an diesen sozialen Leistungen gezahlt wird, gerade für die Menschen weniger wird.
Deutschlandradio Kultur: Vielleicht sollten wir uns nicht über diese Zahlen streiten, Herr Fratzscher, sondern nochmal zu dieser Frage zurückkommen, welche politischen Folgen es für eine Gesellschaft hat, wenn es eine nennenswert große Gruppe gibt von Menschen, wo man sagt, die sind die reden nicht mehr mit.
Armut gefährdet Demokratie
Marcel Fratzscher: Ich habe es angefangen zu erklären. Also, Ungleichheit heißt, dass auch ein immer größerer Teil der Bevölkerung vom Staat abhängig wird, damit nicht mehr selbständig ist, nicht mehr autonom handeln kann. Das heißt auch weniger politische Teilhabe. Das sind auch diese Menschen, die häufig dann gar nicht mehr zur Wahl gehen, die sagen, ich falle hinten runter, es kümmert sich niemand mehr um mich, ich bin abgehängt, ich kann nicht mehr am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Ich kann auch nicht mehr an vielen ja sozialen Aktivitäten teilnehmen, weil ich es einfach nicht kann, mir nicht leisten kann.
Und das ist letztlich auch für eine Demokratie schlecht. Das führt dazu, dass die Demokratie nicht mehr so funktioniert, wenn nur gewisse Gruppen oder immer weniger Gruppen sich wirklich aktiv einbringen können, den Prozess beeinflussen können. Und es ist ein Riesenproblem für das Funktionieren einer Gesellschaft, wenn es eine abgehängte Gruppe gibt. Also, für eine Demokratie ist diese steigende Ungleichheit absolutes Gift und auch aus dem Grund eigentlich wichtig für den Staat, da gegenzusteuern und zu sagen, wir brauchen eine Lösung, dass es nicht immer mehr abgehängte Menschen gibt, sondern dass diese Menschen auch eine faire Teilhabe haben, die ihnen eine Chance in der Gesellschaft gibt.
Deutschlandradio Kultur: Da sind wir so wieder ein bisschen an meinem Ausgangspunkt. Wenn ich Ihnen zuhöre, dann denke ich wirklich, wir stehen hier kurz vorm Abgrund in Deutschland. Und dann gibt es wieder die anderen Zahlen, die sagen: Insgesamt ging es den Deutschen noch nie so gut wie heute. Wir haben ein Rekordtief an Arbeitslosigkeit. Wir haben ein BIP pro Kopf, kaufkraftbereinigt, von 48.000 Dollar. Das ist auch so hoch wie noch nie. Insgesamt, auch wenn die Ungleichheit zugenommen hat, aber insgesamt ist der Lebensstandard, wenn wir es jetzt vergleichen mit den 50er-Jahren, mit den 60er-Jahren, enorm gestiegen.
Marcel Fratzscher: Die Frage ist immer: Wem geht’s besser? Natürlich, wenn…
Deutschlandradio Kultur: Insgesamt, allen geht es besser!
Marcel Fratzscher: Na, allen geht’s mit Sicherheit nicht besser, sonst würden Sie keine Leute finden, die in Armut leben und Sozialhilfe brauchen, Kinderarmut ist in Deutschland hoch, jedes dritte Kind in Berlin lebt in einem Hartz-IV-Haushalt, also…
Deutschlandradio Kultur: Ja, das bestreite ich nicht. Trotzdem…
Marcel Fratzscher: Also, nicht jedem geht’s besser.
Deutschlandradio Kultur: Ja. Trotzdem ist ja die Definition von Armut, die wir heute haben, möglicherweise auch eine andere als die, die wir 1959 hatten. Also, man kann ja trotzdem sagen, wer von Hartz IV leben muss, dem geht es schlecht, aber insgesamt ist er ökonomisch immer noch besser dran als jemand, der Sozialhilfe bekommen hat 1959.
Auf die Verteilung kommt es an
Marcel Fratzscher: Da komme ich wieder auf die Frage des Anspruchs zurück. Ist es wirklich für uns als Gesellschaft der Anspruch, dass die Menschen besser dastehen als 1959? Natürlich geht es uns besser. Natürlich ist Deutschland ein reiches Land. Natürlich gibt es viel Wohlstand in Deutschland. Natürlich ist Deutschland eine enorm erfolgreiche Volkswirtschaft. Das will ich gar nicht bezweifeln.
Die Frage ist: Was ist der Anspruch? Eine Gesellschaft funktioniert nicht, indem man alles zusammen aufaddiert und sagt, hier ist mehr Wohlstand, höheres Pro-Kopf-Einkommen, hier reden wir über Durchschnitte.
Aber eine Gesellschaft besteht aus vielen Individuen und aus vielen Familien. Und da ist Verteilung einfach wichtig, weil, nicht nur eine Gesellschaft, nicht nur ein politisches System, sondern auch eine Volkswirtschaft kann nur dann funktionieren, wenn es eine Teilhabe gibt, wenn so viele Menschen wie möglich am gesellschaftlichen, am politischen, am wirtschaftlichen Leben teilhaben können. Und das ist in Deutschland mittlerweile ein Problem geworden.
Deshalb, bei allem Wohlstand, den wir haben, bei allen Erfolgen, da gebe ich Ihnen ja Hundert Prozent Recht, können wir doch einfach nicht diese Verteilungsfrage, also, wer hat welches Stück vom Kuchen, ignorieren. Und da ist die Tatsache, dass viele Deutsche heute schlechter dastehen als vor fünf Jahren, schlechter dastehen als vor fünfzehn Jahren.
Ich gebe Ihnen ein paar konkrete Zahlen: Vierzig Prozent der Deutschen haben heute geringere Reallöhne, also Kaufkraft ihrer Löhne, als noch vor fünfzehn Jahren. Das sind die unteren vierzig Prozent. Das sind die, die Sie nicht hören. Das sind die, die nicht wirklich in den Medien erscheinen und ständig sagen, so ein Mist, ich habe weniger.
Deutschlandradio Kultur: Vierzig Prozent aller Arbeitnehmer heute haben geringere Reallöhne als vor fünfzehn Jahren?
Marcel Fratzscher: Ja.
Deutschlandradio Kultur: Also zwei Fünftel.
"Sozial ist, was gute Arbeit schafft"
Marcel Fratzscher: Zwei Fünftel. Jetzt können Sie sagen, das ist wenig, sechzig Prozent haben mehr. Ich würde sagen, es ist eigentlich eine schlechte Leistung.
Sie haben meine Kollegen, die Ökonomen erwähnt, die sagen, die Arbeitslosenquote in Deutschland ist in den letzten zehn Jahren halbiert worden. Es sind viele Menschen in Arbeit gekommen. Das ist eine absolute Erfolgsgeschichte. Natürlich ist es wichtig, Menschen erstmal in Arbeit zu bringen. Aber viel mehr Leute arbeiten heute in prekären Jobs, viel mehr Leute arbeiten Teilzeit, würden gerne länger arbeiten. Und eine ganze Menge Leute arbeitet für geringere Reallöhne.
Jetzt können Sie sagen, das Glas ist halb voll oder halb leer. Die Leute haben ja Arbeit. Meine Kollegen sagen, "sozial ist, was Arbeit schafft". Ich sage, wir bräuchten eigentlich einen höheren Anspruch, nämlich: Sozial ist, was gute Arbeit schafft, was den Menschen die Möglichkeit gibt, ihre Fähigkeiten einzubringen, einen sicheren Job zu haben, sich fortzuentwickeln, eine Karrieremöglichkeit zu haben, ein sicheres Einkommen zu haben, für sich und die Familie sorgen können.
Also, es ist wieder die Frage: Was ist unser Anspruch als Gesellschaft? Und meine Aussage ist: Wir dürfen uns mit dem, was wir heute haben, nicht zufrieden geben, denn Deutschland kann es deutlich besser und muss es besser schaffen.
"Alle Parteien schüren Ängste auf den Rücken der Flüchtlinge"
Deutschlandradio Kultur: Herr Fratzscher, Sie haben neulich in einem Interview der Union und der SPD eine Mitschuld an den Erfolgen, an den Wahlerfolgen der AfD gegeben. Wie haben Sie das gemeint?
Marcel Fratzscher: Wenn man sich anschaut, was die sehr rechtsextremen Tendenzen in Deutschland auch mit verursacht hat, so ist es natürlich gerade das Thema Flüchtlinge, Geflüchtete, über eine Million, die letztes Jahr zu uns gekommen sind. Es gibt eine ganze Reihe von Menschen, die sagen, oh, da kommen viele zu uns. Was heißt denn das jetzt für mich? Was heißt denn das für meine staatlichen Leistungen, die ich erhalte? Was heißt denn das für meinen Job? Ist der jetzt gefährdet? Kriege ich jetzt vielleicht sogar weniger Lohn, weil jetzt da die Geflüchteten kommen und alle auf den Arbeitsmarkt drängen?
Und die Politik spielt damit, dass sie diesen Menschen Angst macht, dass sie Ängste schürt und sagt, das können wir nicht schaffen, das geht alles den Bach runter.
Deutschlandradio Kultur: Moment, das können Sie jetzt aber Merkel nicht vorwerfen, dass sie sagt: Wir schaffen das nicht.
Marcel Fratzscher: Frau Merkel werfe ich das nicht vor. Und ich halte die Aussage, "wir schaffen das", für absolut richtig.
Deutschlandradio Kultur: Also, Sie meinten jetzt die Politiker der AfD, die diese Ängste schüren?
Marcel Fratzscher: Ich meine es durch die Parteien durch. Es gibt eine ganze Menge, die versuchen Stimmen zu sammeln auf den Rücken der Flüchtlinge. Dadurch, dass man diese Ängste schürt, treibt man natürlich dann viele Menschen dann auch zu diesen rechtsextremen Parteien, obwohl die Herausforderung der Geflüchteten langfristig, das ist eine große, große, schwierige Herausforderung, aber sie durchaus bewältigt werden kann.
Deutschlandradio Kultur: Die Frage ist ja tatsächlich, ob solche Ängste die wirklich großen vorherrschenden Motive sind der AfD-Wähler und -Anhänger. Der Spiegel hat eine Umfrage veröffentlicht, wonach 79 Prozent der AfD-Anhänger ihre eigene wirtschaftliche Situation als sehr gut oder auch gut bezeichnen. Man sieht ja auf diesen Demonstrationen von Pegida, von AfD, zum Beispiel auch in den Hörerbriefen an uns, was für ein Maß an Wut und Aggression unterwegs ist, was mich jedes Mal wieder vollkommen von den Füßen haut. Also, von "Volksverrätern" wird gesprochen, von der "Lügenpresse", und wie über Menschen gesprochen wird, die keine Deutschen sind, möchte ich hier gar nicht zitieren. Und da scheint mir doch so etwas eher wie der blanke Rassismus auf, als berechtigte oder unberechtigte ökonomische Ängste.
Marcel Fratzscher: Absolut. Xenophobia, Fremdenfeindlichkeit, ist sicherlich Teil davon. Das will ich gar nicht bezweifeln. Mein Punkt hier ist: Es werden Ängste geschürt, die einfach nicht notwendig sind. Geflüchtete sind finanziell, logistisch, organisatorisch eine große Herausforderung für die Bundesrepublik, diese Menschen zu integrieren in den Arbeitsmarkt, in die Gesellschaft. Aber wir wissen aus vielen Studien, dass das langfristig gelingen kann, dass Deutschland in der Vergangenheit Zuwanderer sehr erfolgreich integriert hat.
Deutschlandradio Kultur: Das ist aber jetzt ein rein rationales Argument.
Marcel Fratzscher: Ja, absolut.
Wirtschaftliche Sorgen und Fremdenfeindlichkeit trennen
Deutschlandradio Kultur: Und mein Punkt war, dass ich fürchte, dass viele dieser Menschen - ich sprach von der Wut und dieser Aggression und dem Hass - durch rationale Argumente gar nicht zu erreichen sind.
Marcel Fratzscher: Da gebe ich Ihnen absolut Recht. Genau das ist eigentlich mein Punkt. Gut, Fremdenfeindlichkeit kann man nicht adressieren, aber diese Sorge, jetzt wirtschaftlich, nehme ich persönlich als Deutscher jetzt Schaden dadurch, dass Flüchtlinge kommen, dass die Politik das klar macht, das stimmt einfach nicht. Das ist falsch. Man kann mit irrationalen Argumenten schwer umgehen, aber das ist ja auch die Aufgabe der Politik, in der Öffentlichkeit aufzuklären und zu sagen, nein, das stimmt so nicht.
Deutschlandradio Kultur: Jetzt haben wir die meiste Zeit, Herr Fratzscher, über Ungleichheit und Armut gesprochen. Es gibt ja auch Reiche in Deutschland – und gar nicht so wenige. Über die weiß man ja erstaunlich wenig. Warum ist das eigentlich so?
Marcel Fratzscher: Man weiß wenig über die Reichen, weil es einfach keine Statistiken dazu gibt, weil es keine Vermögenssteuer gibt oder nichts, wobei die Vermögenden oder irgendein Mensch dazu verpflichtet ist anzugeben, was er oder sie an Vermögen hat.
Deutschlandradio Kultur: Wäre das nicht mal ein lohnendes Forschungsprojekt für das DIW?
Marcel Fratzscher: Da gibt es Forschungsprojekte zu, aber Sie werden niemanden dazu zwingen können, Ihnen ihr Vermögen akkurat anzugeben, ganz im Gegenteil. Mit dem sozioökonomischen Panel fragen wir auch diese Fragen, aber wir wissen, dass die Superreichen diese Frage nicht beantworten oder vielleicht es noch gar nicht mal wissen, wie viel sie wirklich haben.
Deutschlandradio Kultur: Vielen Dank für Ihren Besuch, Herr Fratzscher.
Marcel Fratzscher: Ich danke Ihnen.
Deutschlandradio Kultur: Bei Hanser ist vor Kurzem Marcel Fratzschers Buch "Verteilungskampf" erschienen.