Diverse Identitäten des August Bebel

Das Proletariat verehrte August Bebel als Arbeiter-Kaiser. Der Sozialdemokrat erster Stunde hat für das allgemeine Wahlrecht und die Gleichberechtigung von Frauen gekämpft. Jürgen Schmidt deutet den Arbeiterführer aber nicht bloß als Ikone, er zeigt auch die anderen Seiten des altehrwürdigen SPD-Mannes.
Es ist keine Geschichte vom Tellerwäscher zum Millionär, die Jürgen Schmidt in seiner beeindruckenden August Bebel-Biographie erzählt; auch, wenn man das zunächst glauben könnte. Als Bebels Mutter starb und der 13-Jährige zum Waisenkind wurde, verzeichnete die Inventarliste ihres Haushaltes lediglich "Bettwerk, Weißzeug, Kleidungsstücke, Möbel und Hausgerätschaften".

60 Jahre später vererbte dieses Waisenkind seiner Tochter ein Privatvermögen von 300.000 Mark, damals etwa das Zweihundertfache des Jahreseinkommens eines sehr gut verdienenden Facharbeiters. Dazwischen liegen Jahrzehnte, in denen August Bebel den Spagat lebte, zwischen einem Leben als Handwerker-Unternehmer, Familienmensch und Politiker - meistens weit über seine Kräfte hinaus, ein Mensch, der nicht von, sondern für die Politik lebte. Und so war er am Ende nicht nur privat wirtschaftlich erfolgreich, er hat auch das Geld seiner sozialdemokratischen Partei stets clever angelegt.

Die Arbeiter verehrten diesen Mann, der für eine neue Gesellschaft gestritten hat, als ihren Arbeiter-Kaiser. Zu seiner Beerdigung in Zürich folgten Bebels Sarg etwa 30.000 Menschen, Männer und Frauen. Mit Fug und Recht war er der erste männliche Feminist, der in seinem Buch "Die Frau und der Sozialismus" die Utopie von der Nichtmehr–Konkurrenz zwischen Männern und Frauen entwickelte. Das kam an. Sein Buch wurde ein Bestseller. Immerhin 52 Auflagen wurden zu Bebels Lebzeiten verkauft.

Dabei wäre ein Leben im Elend für den jungen Bebel viel wahrscheinlicher gewesen, in den Unterschichten, für deren Befreiung er sich einsetzte. Dass dies nicht geschah, hatte er einem Armen- und Waisenfonds von Wetzlar, wo er nach dem Tod der Mutter bei Verwandten lebte, und seiner eigenen Zähigkeit zu verdanken. Nur so schaffte es der junge August, die Tür zu einer schmalen Bildung einen Spalt weit aufzudrücken, um nach der Schule eine Lehre absolvieren, und später sogar sein eigenes Drechslerunternehmen führen zu können. Zeit seines Lebens - und bis in seine Texte über eine künftige sozialistische Gesellschaft hinein – blieb Bebel von der Erfahrungswelt des Handwerkers geerdet.
Vorgeschichte der Sozialdemokratie
Seine politische Initiation erfolgte in Leipzig, wohin Bebel eher zufällig als Geselle auf der Walz geraten war und ebenso zufällig während einer Versammlung entdeckte, dass es ihn in die Politik zieht. Leipzig wurde für drei Jahrzehnte sein Lebensmittelpunkt, politisch, aber auch wirtschaftlich, als erfolgreicher Unternehmer, und auch privat brachte ihm Leipzig Glück, denn dort lernte Bebel Julie kennen, die Frau fürs Leben, mit der er 23 Ehejahre zusammen lebte.
Wer die Vorgeschichte der Sozialdemokratie nicht parat hat, bekommt sie in dieser Biografie en passant mitgeliefert, nebst allen Kämpfen um Errungenschaften, die heute selbstverständlich sind, vom Allgemeinen Wahlrecht bis zur Gleichberechtigung von Frauen. Minutiös werden die Richtungskämpfe innerhalb der Sozialdemokratie beschrieben, und Bebels Rolle darin, der dem ideologischen Revisionismus des Eduard Bernstein lebenslang nichts abgewinnen konnte.

Manchmal blitzen bei Schmidt Formulierungen auf, bei denen einige Sozialdemokraten schmerzlich das Gesicht verziehen dürften; etwa, wenn er es "fordern und fördern" nennt, als er beschreibt, wie Bebel versucht, die Arbeiterbildungsvereine besser zu organisieren – während wir eher an die Schröderschen Hartz-Gesetze denken.
Schmidt deutet Bebel nicht als Ikone, die er vielen damals war und bis heute ist, sondern als multiple Persönlichkeit, mit verschiedenen Identitäten: Den "atheistischen Bebel, der von seinen Anhängern wie ein Heiland verehrt wurde; der Gesellschafts- und Staatskritiker des deutschen Reiches, "Todfeind", der bereit war, es militärisch zu verteidigen; Bebel, der den Kladderadatsch, den Zusammenbruch des Systems, geradezu predigte und dennoch den Fortschritt in Wirtschaft, Technik und Gesellschaft pries."

Bebel starb 1913, ein Jahr vor dem Ersten Weltkrieg, dem großen Zeitenbruch. Wie er sich in Bezug auf die Kriegskredite verhalten hätte, die die Sozialdemokratie dauerhaft spaltete? Wir wissen es nicht. Zum Glück wehrt sich Jürgen Schmidt dagegen, aus dessen früherem Verhalten über "imaginierte Entscheidungen" zu spekulieren, wie er auch Bebels Lebenslauf nicht als pars pro toto für "die Massen" deutet.

Besprochen von Liane von Billerbeck

Jürgen Schmidt: August Bebel. Kaiser der Arbeiter
Rotpunktverlag, Zürich 2013,
285 Seiten, 27, 00 Euro


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