Diskrete Kunst

Von Walter Bohnacker · 06.10.2009
Die Tate Britain in London präsentiert derzeit die Arbeiten der vier Kandidaten für den diesjährigen Turner-Preis für bildende Kunst, der im Dezember vergeben wird. Zu sehen sind Walknochen, Rinderhirn und Stahlstaub.
Diese Besucherin ist kein Fan von Videoinstallationen. So was lasse sie kalt, sagt sie. Das Gute hier sei, dass man alles geduldig betrachten könne und aus nächster Nähe. Je näher, desto besser. Der Turner-Preis 2008 ging an einen Videokünstler mit einer Vorliebe für Zeichentrickfiguren. Dieses Jahr sind Filmchen Fehlanzeige.

Die Turner-Schau 2009 kommt ganz anders daher: seriös und diskret und auf leisen Sohlen. Oder wie es die Besucherin formuliert: irgendwie flüchtig und so schön vergänglich. So viel Mühe nur für den Augenblick, und nachher ist alles weg ... wunderbar!

Das Spiel mit wechselnden Aggregatzuständen und mit rasch und, ja, wunderbar sich verflüchtigenden Substanzen: Das ist das Metier von Roger Hiorns. Nominiert wurde der 34-Jährige aus Birmingham für eine Aktion, mit der er Ende letzten Jahres für Aufsehen gesorgt hatte.

Hiorns pumpte 75.000 Liter Kupfersulfatlösung in eine leerstehende Londoner Sozialbauwohnung. Dann wartete er, bis sich nach Abkühlung der Chemikalien an Wänden, Decken und Fußböden Kristalle bildeten, die die "Wohnhöhle" in ein bezauberndes Blau tauchten.

In der Tate Britain ist der "moderne Alchimist", so nennt ihn ein Jury-Mitglied, nicht mit seiner magischen blauen Grotte vertreten, sondern mit einer Installation, die den jungen Künstler einmal mehr als einen Meister der, wie er es nennt, "chemischen Intervention" ausweist.

Ein grauer Haufen aus Metallstaub auf dem Galerieboden hat Ähnlichkeit mit einer Wolkenbank oder einer Mondlandschaft. Oder ist es ein Ölteppich aus der Vogelperspektive? Bei dem Staub handelt es sich um den pulverisierten Überrest eines Flugzeugtriebwerks. Die Metaphorik der Transformation scheint klar: Kein Organismus, auch nicht der einer Maschine, entkommt dem Auflösungsprozess. Letztlich wird alles ein Opfer von Entropie und Zerfall.

Mit 49 ist der in Glasgow arbeitende Richard Wright der älteste der vier Kandidaten. Wrights Spezialität sind großformatige Wandmalereien. Er hat in der Tate eine ganze Galeriewand mit einem intrikaten Goldblattfresko verziert, das auf den ersten Blick anmutet wie ein Rorschach-Klecks oder exzessive Barockdekoration. Die zu Grunde liegende harmonische, symmetrische Anordnung der Muster ergibt sich erst nach längerer Vertiefung in das Muster.

Wright nimmt Bezug auf den räumlichen Kontext, in dem seine Arbeiten entstehen. Nach Ablauf seiner Ausstellungen lässt er sie konsequent durch Übermalen wieder entfernen. Das Temporäre, die Zerbrechlichkeit, sagt er, stehe im Zentrum seiner Kunst. Ihm gehe es um die Präsenz seines Werks im Hier und Jetzt.

Wrights Gemälde, ob figürlich oder abstrakt, sind Stimulanzien der Kontemplation und der Meditation. Er selbst spricht von der "Evolution der Bedeutung" während des Betrachtens. Technik und Aufwand des Entstehungsprozesses treten in den Hintergrund gegenüber dem Gesamteindruck des Freskos.

Um genaues Hinsehen geht es auch Lucy Skaer. Sie ist die einzige Frau auf der diesjährigen Turner-Shortlist. Faszinierend sind ihre beiden Arbeiten, die Wale zum Gegenstand haben.Durch schmale senkrechte Wandschlitze sehen wir den aus dem Naturkundlichen Museum in Edinburgh in die Tate verfrachteten Schädel und den Skelettrumpf eines Pottwals. Der Meeressäuger zeigt sich uns nur in perspektivischen Ausschnitten und wirkt dadurch noch um einiges kolossaler als in der Totale. Skaer nennt ihre Installation "Leviathan Edge".

Ein ganzes Walskelett präsentiert sie daneben in einer großformatigen Zeichnung. Wie in einem Suchbild versteckt sich der Wal auch hier: diesmal in einem kaum durchschaubaren Wust aus Kringeln und Spiralen, mit dem Skaer ihren Leviathan überzogen und gefangen hat wie in einem engmaschigen Netz aus Filz- und Bleistift.

Bleibt noch, als Vierter im Bunde, der in Italien geborene Enrico David. Reelle Chancen auf den Turner-Preis 2009 hat er wohl kaum mit seinem surrealistischen Skulpturen-Tableau und den verzerrten, mutierten Körpern aus Pappmaché. Eine Puppe sieht aus wie ein Riesenei und steht auf Schaukelstuhlbeinen. Dahinter steckt sicher eine solide Portion abgründigen Humors, inspiriert vielleicht von der italienischen Commedia dell'Arte – aber mehr wohl auch nicht.
Nein, es ist wohl schon so: Diese Turner-Kür markiert eine Rückkehr zu Bewährtem. Zum Zeichnen und zur Malerei und zur Schönheit. Bei den Buchmachern gilt der "Alchimist" Roger Hiorns als großer Favorit, gefolgt von der Wal-Schauerin Lucy Skaer und vom Tiepolo aus Glasgow, Richard Wright.

Turner 2009 ist kein Jahrgang der Sensationen oder der Kontroversen und schon gar nicht der Skandale, eher schon eine "Schule des Sehens". In den Feuilletons auf der Insel ist die Rede von der "Rückkehr der Handwerker" und tatsächlich vom "Besten der britischen Gegenwartskunst". Schon bei der Bekanntgabe der Shortlist im April schrieb die "Times": "Der Turner-Preis erwacht aus dem Koma".

Am 7. Dezember wird der Preis verliehen, und der Sieger – die Siegerin – wird sagen dürfen: Diese 25.000 Pfund gab's für gute, schöne Kunst.