Die Meisterwerke dürfen zu uns sprechen
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Mit Beethovens neunter Sinfonie beginnt Kirill Petrenko als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker. Ihm ist zuzutrauen, hörbar zu machen, was für ein zerrissenes, sprödes Werk die Neunte ist. Er sei verliebt in das Ur-Repertoire, sagt Petrenko.
Die Berliner Philharmoniker besinnen sich wieder auf das Kerngeschäft. Mit Beethovens neunter Sinfonie wird der neue Chefdirigent Kirill Petrenko seine erste Konzertsaison eröffnen, und selbstverständlich hat das Symbolkraft. Keine Uraufführung, kein verblüffendes Werk, für dessen Rehabilitierung Petrenko sich einsetzt, sondern das Zentralwerk bürgerlich-repräsentativer Musikkultur.
Zwar kombiniert er die Sinfonie mit Bruchstücken aus Alban Bergs Oper "Lulu", aber dieses Werk ist bereits über 80 Jahre alt. Das könnte man als Abwendung von der Gegenwart deuten, aber Petrenko scheint vor allem die Zeitlosigkeit des Kernrepertoires zu interessieren, weniger die modische Attitüde einer behaupteten Relevanz von Kompositionen, deren musikalische Substanz ihn nicht überzeugt.
Bei Petrenko dürfen die Meisterwerke zu uns sprechen ohne Schnickschnack und Inszenierung, das scheint die Botschaft zu sein, wenn man ihm auf der Jahrespressekonferenz des Orchesters zuhörte. Dass er seit vielen Jahren keine Interviews mehr gibt, bedeutet nämlich nicht, dass er nichts zur Musik zu sagen hätte.
Er will sich für Meisterwerke einsetzen, die er im Konzertbetrieb für unterrepräsentiert hält. Der tschechische Komponist Josef Suk gehört ebenso dazu wie Sergej Rachmaninow. Wirklich ausgefallen ist das alles nicht, auch die Philharmoniker könnten durchaus wagemutiger programmieren, aber nach der Ära des Chefdirigenten Simon Rattle mit seiner Vorliebe für hierzulande unbekannte Werke englischer Komponisten zweifelhafter Qualität schwingt das Pendel nun wieder in die andere Richtung.
Von altem Schrot und Korn
Er sei verliebt in das Ur-Repertoire, bekannte Kirill Petrenko, und diese Liebe teilen zweifellos auch die Berliner Philharmoniker. Anders ist die demonstrative Begeisterung des Orchestervorstands und der Intendantin nicht zu erklären, die sich selbst als "schockverliebt" in den neuen Chefdirigenten bezeichneten. Gerade die grundsolide Art dieses Dirigenten von altem Schrot und Korn spricht die Musiker an, die Energie und Freude an der Auseinandersetzung mit den alten und neuen Partituren scheinen ansteckend zu sein. Denn dass dem oberflächlichen Betrachter schwindlig werden kann vor programmatischem Konservatismus, schließt Experimentierfreude nicht aus.
Ab seiner zweiten Saison will Petrenko auch Uraufführungen dirigieren. Schließlich ist er in der Spielzeit 2019/2020 auch noch Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper, wo er ebenfalls ein ambitioniertes Programm verantwortet. Von den 82 Berliner Konzerten der Philharmoniker dirigiert er nur 16, das ist sicher noch steigerungsfähig. Auf Tourneen ist er präsenter, auch um seinen internationalen Ruf zu festigen.
In der Philharmonie dirigieren derweil neben den altbekannten Gästen wie Herbert Blomstedt, Daniel Harding, Christian Thielemann, Yannick Nézet-Séguin und Paavo Järvi auch Debütanten wie der überaus angesagte Teodor Currentzis. Um die Musikvermittlung, wie Kirill Petrenko das "Education"-Programm lieber nennen möchte, kümmert er sich allerdings wieder selbst, indem er Giacomo Puccinis Einakter "Suor Angelica" mit Stipendiaten der Herbert-von-Karajan-Akademie und Teilnehmern des Projekts "Vokalhelden" einstudiert.