"Dirigent, der die Musik zum Leuchten bringt"

Wolfgang Schreiber im Gespräch mit Ulrike Timm · 26.06.2013
Wolfgang Schreiber, Musikkritiker der "Süddeutschen Zeitung", würdigt den Dirigenten Claudio Abbado zu dessen 80. Geburtstag: Der Italiener sei kein "Tyrann" am Pult, sondern bringe bei den Berliner Philharmonikern seit Jahren mit behutsamen Signalen an die Musiker die Musik zum Leuchten.
Ulrike Timm: Wolfgang Amadeus Mozart, der Finalsatz "Presto" aus der Symphonie Köchelverzeichnis 385, gespielt vom Orchestra Mozart gemeinsam mit Claudio Abbado, und heute wird der Dirigent 80 Jahre alt. Im Studio ist der Musikpublizist Wolfgang Schreiber, 25 Jahre lang Musikkritiker der "Süddeutschen Zeitung" und Autor eines Buches, "Die großen Dirigenten". Willkommen!

Wolfgang Schreiber: Guten Tag!

Timm: Herr Schreiber, ich habe eben gesagt, gemeinsam mit Claudio Abbado, nicht unter der Leitung von, weil es mir einfach passender erschien. Was ist das für ein Zusammenspiel, das Orchestra Mozart mit Claudio Abbado am Pult?

Schreiber: Ich glaube, dass Claudio Abbado sich eher als Primus inter Pares versteht, nicht als Autokrat und auch als Pulttyrann, der angibt, wie es alles geht, mit Gewalt hineinboxt. So einen Satz wie den, den wir gerade gehört haben, er mag die jungen Musiker, deswegen hat er so viele Orchester gegründet. Also dieses Orchestra Mozart ist die jüngste Gründung von ihm, und es sind Italiener, aber nicht nur.

Timm: Es ist ein Mix aus ganz jungen und ganz erfahrenen Musikern, die dort alle nicht spielen müssen, es gibt keine festen Stellen in dem Sinne da.

Schreiber: Da tut sich ein kleiner Widerspruch, ein scheinbarer Widerspruch auf, weil dieses Brio, diese Heftigkeit, die könnte man bezeichnen vielleicht als Italianitá, Impulsivität des Italieners, diese kommunikative Lust am Geschwinden und Spektakulären, aber gleichzeitig, Abbado ist auch der Dirigent, der die Musik zum Leuchten bringt, der einen langsamen Satz bis zum Stillstand, wie die 9. Mahler zum Beispiel, das Schlusslaudatio, bringen kann, und der sehr, sehr, sehr zurückhaltend musizieren kann mit unglaublich feinen Werten im Piano, Pianissimo bis zur Unhörbarkeit.

Timm: Claudio Abbado bekleidet seit vielen Jahren keine Chefpositionen mehr, seit er von den Berliner Philharmonikern weggegangen ist, vorher war er in Wien und in Mailand. Er hat als Dirigent alles erreicht, aber in den letzten Jahren vor allem Orchester erfunden, gegründet, die Musiker haben vielleicht auch ihn gefunden, er gründet ein Orchester nach dem anderen. Warum, was sucht er da?

Schreiber: Für ihn ist das – ich habe das mal so genannt, oder auch andere nannten das so – das ist der Traum des Dirigenten, mit Freunden zu musizieren, also mit Musikern, die ihm sehr nahe stehen, die freiwillig antreten, freiwillig zu Proben zusammenkommen wie das Luzern-Festival-Orchester. Und die sagen auch, ja, wir machen für Claudio – Zitat –, "wir musizieren nur für Claudio", also das Hagen-Quartett, das Albert-Berg-Quartett, die Cellistin Natalja Gutman, die spielen mit Claudio, weil sie da etwas finden – also die Sabine Meyer sagte mir mal, ich kann nur hier eine Mahler-Symphonie spielen. Sie kann das natürlich als Kammermusikerin mit ihrem Ensemble, mit dem kleinen Ensemble nicht, und sie mag diese Musik und will das einmal spielen im Leben. Und das kann sie nur mit Claudio sozusagen halt.

Timm: Kommen wir zurück zu diesem großen Dirigenten, den die Musiker alle nur Claudio nennen. Sie selbst haben ihn vor ein paar Wochen gesprochen beim Luzern-Festival. Was war das für eine Begegnung?

Schreiber: Ich kenne ihn sehr lange, und da ist eine gewisse Vertrautheit oder man unterhält sich über Musik, über Städte, über Kunst natürlich. Also da kommt dann auch raus, dass Abbado sehr, sehr nahe sich fühlt und auch ein Kenner ist der Literatur, der schönen Literatur, er ist ja wirklich ein Hölderlinkenner, er liebt das Kino, zum Beispiel war sehr typisch das finale Konzert der Berliner Philharmoniker, das letzte, da hat er als letztes Stück nach der Pause, nach Mahler und Brahms die Filmmusik von Schostakowitsch zu "King Lear" aufgeführt, und da war in der Berliner Philharmonie eine riesige Leinwand, und da wurde dieser Film gespielt und live dirigiert – ich glaube, dass das nur er hinkriegt oder will oder auch durchsetzen kann.

Timm: Ein unglaublich gebildeter Mensch, der viele literarische Zyklen auch mit Musik verknüpft hat, der ein großer Kunstkenner ist, ein begeisterter Segler, ein begeisterter Wanderer, und …

Schreiber: …und Fußballspieler! Ich habe ihn spielen sehen!

Timm: Ehrlich?

Schreiber: Ja, in Wien, in den 80er-Jahren, da hat die Mailänder Scala, wo er ja Musikdirektor war, hat in Wien gastiert bei den Festwochen, und da gab es ein Fußballspiel "Wiener Philharmoniker gegen Mailänder Scala", und Abbado spielte auf dem Platz, er war, glaube ich, 40 Jahre alt, und hatte auf dem Rücken die Nummer Acht, richtige kurze Hose, Fußballschuhe, wir am Spielfeldrand – also es war eine höchst seltene Kuriosität.

Timm: Welche Position spielte er? Libero?

Schreiber: Nein, Acht ist eher Sturm.

Timm: Abbado als Stürmer – ein Mensch, der aber für einen Interviewer eine harte Nuss ist, weil er einfach nicht so gerne spricht. Wie spricht man mit jemandem, der nicht gerne redet?

Schreiber: Ja, das ist gar nicht so, dass man ihm alles Mögliche aus der Nase ziehen muss. Also wenn er irgendwas nicht sagen will, dann sagt er das nicht, aber er ist eigentlich ein ganz normaler Gesprächspartner, muss ich sagen. Er spricht sehr leise und auch ein bisschen zögerlich, so in sich hinein, und manchmal versteht man vielleicht nicht ganz.

Timm: Das Reden ist nicht so seine Sache. Wissen Sie, wo er seinen runden Geburtstag feiert? Auf einem Segelboot vor Sardinien?

Schreiber: Ja, ich habe ihn gefragt, ich habe ihn vor Kurzem, nach dem Berliner Konzert hier habe ich mit ihm gesprochen, im Mai, und er sagte: Ja, mit der Familie und zu Hause. Er lebt ja auf Sardinien, hat dort ein Haus, und dort wird er den Geburtstag verbringen.

Timm: Und nicht ans Telefon gehen?

Schreiber: Weiß ich nicht.

Timm: Herr Schreiber, wir haben sozusagen ganz hinten angefangen in der Biografie von Claudio Abbado in den letzten Jahren, als er ein Orchester ums andere aus der Taufe hob, mit Freunden musizierte. Wir wollen mal ein Stück weiter zurück gehen. Sie haben sich eine Aufnahme für dieses Gespräch gewünscht, die uns auch den intellektuellen, den politischen Menschen Abbado nahe bringt: Nono, die Kantate "Il canto sospeso", der schwebende Gesang. Die Briefe …

Schreiber: Der unterbrochene Gesang und der schwebende, also beides kann das heißen, nicht?

Timm: Die Briefe zum Tode verurteilter Widerstandskämpfer. Was erzählt uns dieses Werk über Luigi Nono und vor allem über Claudio Abbado?

Schreiber: Nono hebt diese Briefe auf eine gläserne Ebene von lyrischer Intensität, und es gibt diesen Sprecher.

Timm: Das war ja ein politisches Stück. Was wollte man erzählen in dieser Zeit? Wieso wurde Politik da so in die Musik übersetzt. Was war das, wie muss man sich das vorstellen?

Schreiber: In den 50er-Jahren, die ja in Deutschland eher als Zeit der Restauration und des Stillstandes und auch der Verdrängung des Dritten Reichs und so weiter gesehen wird, war in Italien, die ganze Kultur Italiens war links, die jungen Leute engagierten sich, also am meisten eben Luigi Nono, und der Hauptimpuls war ein sogenannter antifaschistischer. Das war auch eine Aufarbeitung der schrecklichen Kriegs- und Faschismusjahre, aber das war ganz frisch, und Nono war da sozusagen die Speerspitze in der Neuen Musik, mehr als zum Beispiel Luciano Berio …

Timm: Und Abbado hat sich für ihn eingesetzt, für den Kommunisten?

Schreiber: Abbado hat sich mit Nono befreundet, Abbado hat sich diesen Freund ausgesucht, und dazu gehörte ja noch Maurizio Pollini, auch Mailänder, und die Drei haben auch Aktionen gestartet, sie haben in Universitäten musiziert, für Arbeiter, für Studenten und so weiter, das war damals gang und gäbe in dieser Bewegung, und Abbado hat sich dann mit Nono auseinandergesetzt an der Scala. Also das war eine ganz stabile, enge, brüderliche Freundschaft zu Luigi Nono.

Timm: Wir sollten dringend was hören: Die Berliner Philharmoniker und Claudio Abbado mit einem Ausschnitt aus "il canto sospeso", von Luigi Nono.

((Musikeinspielung))

Timm: Ein Ausschnitt aus Luigi Nonos "il canto sospeso", der schwebende, der unterbrochene Gesang, gespielt von Claudio Abbado und den Berliner Philharmonikern. Heute wird Claudio Abbado 80 Jahre alt. 1989 wählten ihn die Musiker des Berliner philharmonischen Orchesters zu ihrem Dirigenten, und damals, da musste er ein paar ganz öffentliche Worte verlieren, und das klang so:

Claudio Abbado: Ja, ich muss sagen was, sie haben mir telefoniert in Wien, und sie haben mir gesagt, das war die Berliner Philharmonika, weil für zwei Minuten konnte ich nicht atmen. Ich glaube, es ist sehr wichtig mit den Berliner Philharmonikern, ich habe immer gesagt, weiter schön zusammen musizieren, wie weit, ich weiß nicht. Ich hoffe, immer.

Timm: Mir blieb das Herz stehen, Claudio Abbado damals zu seiner Wahl als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, und zu seinen Musikern sagte er als Erstes: Ich bin Claudio, für alle. Und schon in diesem Satz liegt eine große Veränderung zur vorangehenden Ära, zur Ära des Herbert von Karajan, Wolfgang Schreiber, oder?

Schreiber: Das sagt was über seine, ja, über diesen Begriff von Musizieren aus Freundschaft heraus, und nicht Vorgesetzter, nicht der Pultstar – ich gebe an und ihr folgt mir nur, und alle spielen, was ich dirigiere und so weiter, sondern er ist eigentlich neben den Musikern, und auch wenn er dann bei den Proben wenig sagt, sondern einfach sagt, die Stelle bitte noch mal, das hat dann manche Musiker auch verstört oder befremdet, verblüfft. Manche wollten wissen warum, was ist da los, warum haben wir … aber er möchte hören. Die Musiker sollen wie bei Kammermusik, Streichquartettspieler, vier Streicher hören aufeinander und reagieren spontan aufeinander. Und das ist sein ganz großes Ziel beim Musizieren, dass er das mit dem Orchester in die Wege leiten kann, dass sie das befolgen und von sich aus dann auch lernen und dann auch tun.

Timm: Der Musikpublizist Wolfgang Schreiber ist bei uns zu Gast, wir sprechen aus Anlass des 80. Geburtstags von Claudio Abbado, und wir sprechen mal über die Dirigentensprache des Claudio Abbado. Ganz simpel, wie kann es sein, dass jemand, der in einer Probe sagt: "Wäre schön ein bisschen mehr marcato", wie kann es sein, dass so jemand derart magische, umjubelte Livekonzerte gibt? Wo ist der magische Moment?

Schreiber: Im Wesen des Augenblicks, der ist unwiederholbar, der bringt eine ganz bestimmte Spannung hervor bei Musikern, die sensibel sind und hören. Und natürlich, für Dirigenten ist ganz wichtig, und für Claudio Abbado genau so, dass sein Blick, sein Blick auf die Musiker, was das Publikum im Rücken natürlich nicht sieht, mit den Gesten natürlich, mit sehr fließenden Bewegungen der Arme, und blickt die Musiker an und gibt die Signale auf sehr behutsame Weise oder auch sehr fordernde Weise, je nach dem?

Timm: Eine immerwährende Studie der nonverbalen Kommunikation?

Schreiber: Ja, das ist ja eigentlich die Dirigentenarbeit.

Timm: So rein vom Physischen her: Claudio Abbado, schmal, dünn, seit seiner Krebserkrankung wirkt er wie nur noch von der Musik zusammengehalten, vom Äußerlichen her ist er im Grunde prädestiniert für jemanden, der linkische Bewegungen macht, so dünn, so schmal. Und trotzdem kenne ich zumindest niemanden, der so elegant auf Tönen surft wie Abbado.

Schreiber: Ja, mittlerweile geht es ihm ja wieder besser, er schwebt ja fast aufs Podium. Er hat nicht mal ein Geländer am Pult, das haben fast alle Dirigenten, die haben am Pult dieses Geländer, wo sie sich manchmal nach hinten greifen. Abbado hat das nicht gehabt, nicht mal jetzt auch, vor Kurzem.

Timm: Hat er die Krebserkrankung durch die Musik überlebt?

Schreiber: Ja, das hat er auch gesagt. Die Musik hat ihn sozusagen geheilt, und er hat einfach weiterdirigiert, er hat sich immer wieder in diese Spannung versetzt, die in die Musik hineinführt, mit den Musikern, die Verantwortung für ein Orchester. Das sind ja alles unglaublich belebende, vitale Momente, die einen Körper weitertragen, selbst wenn er hinfällig ist.

Timm: Wir wollen noch mal Abbado hören gleich, mit Musik von Gustav Mahler, einem seiner Leib- und Magenkomponisten. Warum eigentlich?

Schreiber: Ich glaube, dass Mahler so auch wie Robert Schumann, auch Schubert, das sind Komponisten, die in ihrer Musik ein Mal des Zerrissenseins tragen, der seelischen Spannungen, die auch ausbrechen, die immer schlummern in den Stücken, und diese unglaubliche personale und musikalische Spannung, ich glaube, dass die es ist, die Abbado, dass er irgendwann verstanden hat, dass das seine Musik ist, auch seine Musik ist, genau so wie Schumanns Musik oder Debussys Musik.

Timm: Dank an Wolfgang Schreiber, wir gratulieren Claudio Abbado zum 80. Geburtstag ganz von fern, und wer neugierig geworden ist auf diesen Künstler, eine große Abbado-Box ist gerade herausgekommen, über 40 CDs für grade mal 70 Euro, darin auch die 6. Symphonie von Gustav Mahler, und daraus hören wir jetzt den Anfang, die Berliner Philharmoniker mit Claudio Abbado – heute wird der große Musiker 80 Jahre alt.


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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