Diplomatin Heidi Tagliavini

"Teilsiege sind auch Siege"

36:30 Minuten
Heidi Tagliavini spricht in die Mikros vor Journalisten
Auf dem Parkett der Diplomatie: 2015 vermittelte Heidi Tagliavini in der Ukrainekrise. © Imago/ITAR-TASS/Viktor Drachev
Moderation: Susanne Führer · 02.07.2021
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Als Schweizer Diplomatin hat Heidi Tagliavini jahrzehntelang zwischen Kriegsgegnern vermittelt, Waffenruhen verhandelt und Feinde an einen Tisch gebracht. Dabei war sie oft, aber nicht immer erfolgreich. Für den Frieden, sagt sie, lohnt jede Mühe.
In zähen Verhandlungen zwischen Konfliktparteien zu vermitteln war für Heidi Tagliavini jahrelang ein Teil ihrer diplomatischen Arbeit. Fensterlose Räume, 40 Grad und Gespräche bis tief in die Nacht - auch das gehörte dazu.
Die Schweizerin vermittelte für die OSZE und für die UNO als Missionschefin, zum Beispiel in Tschetschenien, Georgien, auch in der Ukraine.

"Nie die große Befriedung erlebt"

Wenn die ehemalige Diplomatin eines ihrer Mandate nennen soll, mit deren Ergebnis sie zufrieden ist, dann klingt die 71-Jährige zunächst ein wenig resigniert:
"In allen Konflikten, in denen ich vermittelt habe, sind wir zu keinem nachhaltigen Frieden gekommen sind. Diese ganz große Befriedung habe ich leider nicht erlebt – wobei Teilsiege auch Siege sind."
Sicherheit für die Menschen zu schaffen, und sei es nur für eine kurze Zeit, sei schon ein Erfolg.
Positiv blickt Heidi Tagliavini auf die "Minsker Vereinbarungen" zurück. Für die OSZE leitete Heidi Tagliavini bis 2015 die Verhandlungen zur Deeskalation des Krieges in der Ost-Ukraine.
"Wenn man dann ganz spät in der Nacht, wenn einem fast die Augen zufallen, so etwas unterschreiben kann, dann ist das ein Teilerfolg. Man ist daher schon zufrieden und hofft einfach, dass es hält."

Humor, Empathie und Sprachkenntnisse

Für Verhandlungen zwischen zwei oder mehreren Konfliktparteien brauche man klare Regeln, so Tagliavini. "Da muss man ziemlich energisch durchgreifen. Das konnte ich schon."
Dazu seien Empathie und Humor wichtig – eine Herausforderung, wenn "man mit Leuten zu tun hat, die unter Umständen Blut an den Händen haben", erzählt die frühere Diplomatin. "Man muss sie behandeln, als wenn sie normale Menschen wären. Sonst willigen sie in kein Gespräch ein."
In Verhandlungen, in denen verfeindete Parteien sich gegenseitig die Verantwortung für einen Konflikt zuschieben, erscheint Humor so fremd wie der Gedanke an einen plötzlichen Frieden.
"Aber ich habe in Tschetschenien selbst erlebt, wie ein ziemlich berühmter russischer Unterhändler die Leute in einer ziemlich angespannten Verhandlung mit einem Witz völlig entwaffnet hat. Alle mussten lachen. Da konnte man eine Pause machen und danach weitersprechen. Das ist ganz, ganz wichtig."
Als Vermittlerin müsse sie natürlich exzellent vorbereitet sein, alle Fakten parat haben und die jeweilige Landessprache beherrschen. Tagliavini spricht acht Sprachen fließend. Wegen ihrer exzellenten Russischkenntnisse wurde sie häufig in den Kaukasus entsandt.

Die ersten Kriegserfahrungen

1995 kam Heidi Tagliavini mit einer kleinen OSZE-Mission und einem Friedensauftrag nach Tschetschenien. Sie war die einzige Frau. Es war die Zeit des ersten Tschetschenienkrieges.
"Dort habe ich zum ersten Mal in meinem Leben einen richtigen Krieg erlebt. Wir waren mitten in eine Strafexpedition hineingeraten. Ein Haus nach dem anderen wurde ferngezündet. Alles ging in Flammen auf – wir mittendrin und kamen nicht raus. Das sind Situationen, die man im Augenblick selbst zu verdrängen versucht. Aber die Tatsache, dass ich mich immer noch daran erinnere, zeigt, dass das nachhaltig prägt."
Bis heute, so die Schweizerin, sei ihre "Alarmbereitschaft" auch im Alltag "extrem hoch", etwa beim Autofahren.

Patriarchale Militärs musste sie gefügig machen

Heidi Tagliavini beschreibt sich als "ungeduldig". Durch die Arbeit habe sie aber gelernt sich zu kontrollieren.
Ruhig zu bleiben, das sei mitunter eine große Herausforderung gewesen. Vor allem wenn sie als Frau mit Militärs aus patriarchal geprägten Gesellschaften zu tun hatte. Die ehemalige Diplomatin kann sich gut an eine Begegnung mit einem General erinnern.
"Er saß in seinem Büro und stand nicht auf. Ich musste durch dieses ganze, große Büro gehen. Er hat mich gemustert, wie man eine Kuh auf dem Markt mustert. Ich habe mir gesagt: `Du willst ja was von mir. Ich werde mich jetzt mal ein bisschen in Zurückhaltung üben.` Das ist dann langsam in eine Akzeptanz rübergerutscht."

"Man muss hartnäckig sein"

Auch wenn Heidi Tagliavini Enttäuschungen einstecken musste: Ihre Arbeit als Diplomatin sei ein großes Glück gewesen – weil sie sinnvoll ist.
"Es macht für mich Sinn mich einzusetzen, auch wenn es sehr, sehr oft vergeblich ist. Aber man muss mindestens den Versuch wagen und hartnäckig bleiben. Hartnäckigkeit ist eine Eigenschaft, die man haben muss, um für Menschen eine Insel der Sicherheit zu schaffen – auch wenn sie nur einen Tag, eine Woche oder einen Monat dauert."

"Die Jahre haben Spuren hinterlassen"

Nach 30 Jahren in der Diplomatie – ob als Friedensvermittlerin oder als Botschafterin für die Schweiz – ging Heidi Tagliavini 2015 in den Ruhestand. Ein großes Bedürfnis nach weiteren Einsätzen hat sie nicht mehr.
"Ich merke, die Jahre mit so viel Spannung, mit so vielen Unwägbarkeiten – das hinterlässt natürlich auch seine Spuren."
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