Dimitrij Belkin über "Germanija"

Was bist du, wenn du ganz nackt bist?

Der Historiker Dmitrij Belkin. aufgenommen 2010
Der Historiker Dmitrij Belkin. aufgenommen 2010 © picture alliance / dpa / Horst Galuschka
Von Stefanie Oswalt · 04.11.2016
Dimitrij Belkin kam 1993 als sogenannter Kontingentflüchtling aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland. In "Germanija. Wie ich in Deutschland jüdisch und erwachsen wurde" beschreibt er seine Erlebnisse in den 20 Jahren seit seiner Ankunft.
Als er die Chance seines Lebens sieht und in einen Bus steigt, der ihn ins ferne Germanija zum Studium bringt, ist Dmitrij Belkin 22 Jahre alt, unerfahren und idealistisch. Hier trifft er auf eine Gesellschaft, die er als ablehnend empfindet.
Zitat aus "Germanija" (S. 13): "Ein erstes Missverständnis der Einladung von deutscher Seite an die sogenannten Kontingentflüchtlinge bestand darin, dass man Juden erwartete, aber Sowjetmenschen bekam: häufig atheistisch, arm, belesen und müde. Der staatliche und vor allem der Alltagsantisemitismus hielten uns zusammen und verbaten uns, unser tatsächliches oder imaginiertes jüdisches Naturell zu vergessen. Denn viele von uns – wie auch ich – waren das Produkt einer Ehe zwischen einem Juden und einer Nichtjüdin. Das heißt jüdisch genug, um nach Germanija einzureisen, aber nicht jüdisch genug, um dem deutschen Stereotyp eines Juden zu entsprechen."
Auch in den jüdischen Gemeinden habe man die postsowjetischen Migranten nicht mit offenen Armen empfangen, erinnert sich Belkin:
"Sie kamen rein, hoch gebildet, weit entwickelt, mit tollen Karrieren in ihrem ersten Leben und dann wurden sie auf ihr Analphabetensein unfreundlich hingewiesen, weil die gestressten Gemeindemitglieder haben gesagt:– was wollen die hier, ohne Geld, ohne Sprache, ohne Kenntnisse der jüdischen Religion."
So dauert es lange, bis bei Belkin eine zaghafte Liebe zu Germanija zu keimen beginnt.

"Irgendwann steht man ganz nackt da"

Zitat aus "Germanija" (S. 69): "Deutschland war das Land meines Studiums, der Erweiterung meiner Lebensperspektive, das Land der seltenen russischen Bücher, der niedlichen Berge und des fehlenden Winters. Aber nicht das Land meiner Seele."
Das Land der Seele bleibt die Sowjetunion im Umbruch. Nach Dnepropetrowsk, seinen in der heutigen Ukraine gelegenen Heimatort, will Belkin gemeinsam mit seiner Frau zurückkehren, um dort eine geisteswissenschaftliche Universität zu gründen.
"Ich wollte hier gar nicht bleiben. Weil der Übergang von den Perestroika-Aktivitäten in die schwäbische Provinz ins Wohnheim war nicht, was einen sehr glücklich stimmte und so waren auch die ersten Jahre als Student im Tübingen so: Ich bin ein Student der Geisteswissenschaften, wir studieren sehr schnell, meine Frau und ich. Und dann gehen wir aber zurück und werden unser Land reparieren."
Es gab aber nichts mehr zu reparieren. Anfang der 1990er-Jahre löst sich die Sowjetunion auf, und in der wiedererstandenen Ukraine wird es eng für Leute wie die wie Belkins:
"Und irgendwann steht man ganz nackt da. Man kann nicht mehr zurück, die Sowjetunion existiert nicht mehr, mit der Ukraine hat man nicht wahnsinnig viel zu tun, in Deutschland fühlt man sich schlecht, als Migrant sagen sie: Na, was willst du, der kleine Russe hier mit deinen verrückten Vorurteilen und mit deiner minimalen Sprache?
Und erst dann fragst du, was bist du dann, wenn du ganz nackt bist und dann kam bei mir doch relativ früh die Antwort: Doch jüdisch. Und diese Antwort führte dazu, dass ich auch versucht habe, mit meiner Familie diesen Weg zum Judentum zu machen."

Umweg über das Christentum

Wobei Belkin allerdings einen Umweg über das Christentum nimmt. Aus Sehnsucht nach seiner russischen Heimat, in der nach der Perestroika zunächst das Christentum wieder erblühte, lässt er sich bei einem Heimaturlaub in einem russischen Dorf taufen.
"Das ist auch bei vielen Jüdinnen und Juden, die hergekommen sind der Fall, aber die wenigsten würden das öffentlich preisgeben, weil man in Deutschland, wenn man als Jude hier ist, man hat in der Gemeinde zu sein, man hat am besten im Opferkollektiv zu sein, man hat am besten die Sprache der Post-Opfer-Holocaust-Kommunikation zu lernen, wenn man das aber anders lebt, dann ist man komisch. Und mit diesem Buch will ich mich diesem komischen Leben stellen."
Postsowjetisch-jüdisch und damit Komisch-sein, Anders-Sein als die Juden hier – ist das Thema, um das Belkin eloquent und selbstironisch kreist. Es lässt den Leser teilhaben an den Höhen und Tiefen des Erwachsen-Werdens in Germanija, an seinen Auseinandersetzungen mit Ehefrau Ljudmila, die sich schließlich ebenfalls zum Übertritt entscheidet – um ihrem gemeinsamen Sohn eine jüdische Mutter sein zu können.
Cover von Dmitrij Belkins "Germanija"
Cover von Dmitrij Belkins "Germanija"© Campus
"Sie steht wie ich zu allen Elementen des Lebens und sagt: Wir sind jüdisch. Das war aber auch ein Prozess. Zu sagen ich erzähle jetzt etwas Harmonisches, das wäre auch eine Lüge."
Heute ist Belkin in der jüdischen intellektuellen Community bestens verankert: Als Mitarbeiter des Jüdischen Museums in Frankfurt hat er 2010 an einer Ausstellung über die postsowjetischen Einwanderer mitgearbeitet. Derzeit betreut er als Referent des Ernst-Ludwig-Ehrlich-Studienwerks Promovierende. Die Zukunft jüdischen Lebens in Deutschland, so beendet Belkin sein höchst lesenswertes Buch, gehöre den postsowjetisch-jüdischen Einwanderern:
Zitat aus "Germanija" (S. 202): "(Sie) spielen heute auf der Klaviatur der ost- sowie der westeuropäischen Kultur und sind für jüdische Inhalte beider Kulturen offen. Eine solche Ausgangslage bietet eine große Chance für das 'deutsche Judentum zwei' – und für Deutschland."

Dmitrij Belkin: Germanija. Wie ich in Deutschland jüdisch und erwachsen wurde
Campus Verlag, Frankfurt am Main 2016
202 Seiten, 19,95 Euro

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