Diktaturen im Vergleich

Vorgestellt von Ulrike Ackermann · 02.10.2005
In Deutschland war es lange Zeit verpönt, die nationalsozialistische und die stalinistische Diktatur zu vergleichen. Noch in den 90er Jahren stieß der französische Historiker Francois Furet auf den heftigen Widerstand seiner deutschen Kollegen, als er den Nationalsozialismus und den Kommunismus als zwei feindlich-verwandte Ausgeburten des Ersten Weltkriegs und des bürgerlichen Selbsthasses deutete.
Der renommierte britische Zeithistoriker Richard Overy wagt sich mit seinem gerade erschienenen opulenten Werk über Die Diktatoren. Hitlers Deutschland, Stalins Russland erneut auf dieses bis heute umstrittene Feld. In seiner Analyse der beiden Diktaturen vergleicht und kontrastiert er die Hauptmerkmale der Regime in systematischer Manier. Die Biographien der Führer, ihr Weg an die Macht und deren Konsolidierung bettet Overy in den zeitgeschichtlichen Kontext ein.

" Die Aufgabe des Historikers besteht nicht darin zu beweisen, welcher der beiden Männer der größere Schurke oder Psychopath war, sondern in dem Bemühen, die unterschiedlichen historischen Prozesse und Denkarten zu verstehen, die diese beiden Diktaturen dazu brachte, Morde in einem so ungeheuren Ausmaß zu begehen. Beide zeigten offensichtliche Ähnlichkeiten in ihrem praktischen Vorgehen: im Aufbau des staatlichen Sicherheitsapparates, der Errichtung von Konzentrationslagern in großem Maßstab, der vollständigen Kontrolle über die kulturelle Produktion und der Errichtung einer sozialen Utopie auf einem Berg von Leichen."

Obwohl sich die Regime in vielem unterscheiden, überwiegen in der Gesamtschau ihre Ähnlichkeiten. Beide entstanden aus dem Chaos des I. Weltkriegs, dem Scheitern des Liberalismus und der parlamentarischen Demokratie. Sie waren die Frucht einer einmaligen historischen Konstellation aus politischer Krise, sozialem Umbruch und revolutionärer Situation.

Ende der 20er Jahre setzte in der Sowjetunion mit der Kollektivierung der Landwirtschaft und dem verschärften ideologischen Kampf gegen die Bourgeoisie die so genannte zweite Revolution ein, um den Aufbau des Sozialismus zu beschleunigen. Sie kehrte zum radikalen Weg der frühen nachrevolutionären Jahre des Bürgerkriegs zurück.

Nach dem Börsenkrach 1929 löste die außergewöhnliche soziale und politische Krise in Deutschland eine nationalistische Revolution aus, die das politische System, die Kultur und die Werte der Republik vehement ablehnte. Hitler und Stalin gingen aus den inneren politischen Kämpfen der 20er Jahre als die obersten Repräsentanten dieser beiden Revolutionen und jener Kreise in beiden Bevölkerungen hervor, die diese Revolutionen unterstützten und sich daran beteiligten.

" Die beiden Diktaturen verkörperten den Inbegriff einer radikalen Absage an die westlich-liberale Idee des Fortschritts in ihrer humanistischen Ausprägung, mit ihrer besonderen Betonung der Souveränität des einzelnen, der Vorzüge der Zivilgesellschaft und der Zulassung von Vielfalt. Krieg und Revolution waren die Geburtshelferinnen dieser antibürgerlichen Weltanschauungen."

… schreibt der britische Historiker. Beide Regime hatten eine utopische Vision. In Deutschland versprach Hitler, in der reinrassigen, nationalen Gemeinschaft würde das deutsche Volk von der Erniedrigung der Niederlage im I. Weltkrieg und der unterstellten Ausbeutung durch das internationale Judentum befreit. Und Stalin wollte mit der Ausmerzung der so genannten Klassenfeinde für die Arbeiterklasse das Himmelreich auf Erden im siegreichen Sowjetkommunismus schaffen.

Für beide Diktatoren waren Terror und Gewalt Mittel der Erlösung in ihrer Politik des totalen Umbaus der Gesellschaft. In dem erbitterten Kampf und der eliminatorischen Praxis gegenüber den vermeintlichen Feinden der Gesellschaft, projizierten sie ihre eigene zerstörerische, antihumanistische Mentalität auf ihre Opfer.

" Die europäische Krise, die zu ihrer beider Entstehung führte, und das geistige und kulturelle Erbe, auf das sich jede der beiden Diktaturen berief, brachten zwei Systeme hervor, die sich durch bemerkenswert ähnliche politische und gesellschaftliche Strategien und durch gleichartige Muster der Herrschaftsausübung, Partizipation und Rückkopplung mit der Bevölkerung aufrechterhielten."

In Deutschland und der Sowjetunion taten sich Herrschende und Beherrschte zum Aufbau einer neuen Gesellschaft zusammen, die sich als ein Kollektiv verstand, das mit vereinten Kräften den Weg in die goldene Zukunft erkämpfen wollte. Es war eine Beziehung auf Gegenseitigkeit, in der sich Hitler und Stalin als Inkarnation geschichtlicher Wirkkräfte und als Sachverwalter der gesellschaftlichen Wunschträume ihrer Untertanen präsentierten - und von einem überwiegenden Teil der Bevölkerung als solche auch akzeptiert wurden.

Adolf Hitler und Josef Stalin stehen für die dunkelsten Kapitel des 20. Jahrhunderts. Aber sie waren keine unbegreiflichen Dämonen, sondern Teil der politischen und sozialen Geschichte, in die sie Overy einordnet.

Richard Overy: Die Diktatoren
Hitlers Deutschland - Stalins Russland
Aus dem Englischen von Udo Rennert und Karl Heinz Silber
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2005
Richard Overy: Die Diktatoren
Richard Overy: Die Diktatoren© DVA