Digitalisierung von Entschädigungsakten

Lebensläufe von NS-Verfolgten sichtbar machen

07:37 Minuten
Schwarzweiß-Aufnahme einer Wiese mit Gedenkstein und Balken im Gras, die in ihrer Anordnung an Bahngleise erinnern
Symbolisierte Bahngleise und Gedenkstein in Treblinka: Digitalisierte Akten von NS- Verfolgten sollen deren Geschichte auch für die Nachfahren zugänglicher machen. © picture alliance / akg-images / Henning Langenheim
Von Katharina Thoms · 23.08.2022
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Wer war alles in Sobibor? Wer fuhr mit meiner Mutter im Zug nach Treblinka? Die Digitalisierung von Einzelfallakten zu Entschädigungsverfahren für NS-Verfolgte soll ganz neue Forschungsfragen ermöglichen - und auch Nachfahren neue Erkenntnisse liefern.
„Hier haben wir einen klassischen Karteikasten, mit dem die jeweiligen Landesämter für Wiedergutmachung auch selbst im Behördenalltag gearbeitet haben.“ Archivarin Elena Heim holt braun-verblichene Listen aus einem Holzkasten. Karteikarten J-L, sortiert nach den Orten der Konzentrationslager. „Und auf dieser Karte sind dann eingetragen, welche verfolgte Personen in Kaufering inhaftiert waren und von wann bis wann.“
Die Archivarin leitet im Staatsarchiv Ludwigsburg das Digitalisierungsprojekt. Rund 100.000 Einzelfallakten zu Entschädigungsverfahren für NS-Verfolgte lagern hier. Und noch mehr an drei anderen Standorten in Baden-Württemberg. Seit knapp zwei Jahren schickt sie in einem Pilotprojekt zur Digitalisierung die Papierstapel nach und nach zum Einscannen. Das Ludwigsburger Verfahren soll ein Muster sein für alle sogenannten Wiedergutmachungsakten bundesweit. Sie sollen alle zentral in einem Onlineportal durchsuchbar gemacht werden.

Bearbeitung läuft über Jahrzehnte

„Man muss sich das jetzt anders vorstellen, als man das von seinem Smartphone kennt, wo man einfach die Kamera jetzt auf irgendein Dokument hält“, sagt Harald Sack vom Leibniz-Institut für Informationsinfrastruktur in Karlsruhe. Der Informatiker ist in dem Projekt zuständig für die reibungslose Digitalisierung und Speicherung der Akten.
„Die haben ganz besondere Herausforderungen. Das ist oftmals klar maschinengeschriebener Text, der dann ergänzt wird natürlich durch handschriftliche Eintragungen. Die sind auch nicht immer von derselben Person, dann sind Stempel irgendwo mit drauf. Die Handschrift ist oftmals jetzt nicht sehr sauber, und sie stammt auch noch aus einer Zeit, in der wir solche Schrift-Mischformen haben.“
Von Sütterlin bis zur Handschrift der 2000er-Jahre. Denn die Bearbeitung der Fälle läuft ja oft über Jahrzehnte: Bei Berufungen, Rentenzahlungen zum Beispiel. Bundesweit hat es fast viereinhalb Millionen Entschädigungsanträge gegeben.

Verarbeitung mithilfe Künstlicher Intelligenz

„Wir haben hier ja Kilometer von Aktenbeständen, die dann auch wirklich automatisiert verarbeitet werden müssen. Da können dann auch nicht mehr Menschen für jedes Aktenstück nachhelfen.“
Das würde viel zu lange dauern. Und es gibt auch gar nicht das Personal dafür. Helfen soll Künstliche Intelligenz.
„Und deshalb war die erste Idee: Okay, wir trennen eben diese beiden Bestandteile von Dokumenten. Dass wir zielsicher die gedruckten Inhalte von den handgeschriebenen Inhalten eines Dokuments, von den Stempeln, die auch noch drauf sein müssen, trennen können, und die dann getrennt einer jeweiligen, spezialisierten Verarbeitung zuführen zu können.“
Das Team um Harald Sack hat Schrifterkennungssoftware auf die unterschiedlichen Handschriften trainiert – und bisher sehr gute Ergebnisse erzielt. Je mehr digitalisiert wird, desto besser werde das Programm.

Neue Forschungsfragen möglich

Clemens Rehm sieht sehr großes Potenzial in der Digitalisierung. Der stellvertretende Präsident des Landesarchivs Baden-Württemberg und Mit-Initiator des Pilotprojekts sagt: Ganz andere Forschungsfragen könnten gestellt und damit auch neue Erkenntnisse gewonnen werden.
„Was wir jetzt zum Beispiel nicht feststellen können: Wer war alles in Sobibor? Was ist mit den Ärzten aus Nordbaden passiert, die verschleppt und ermordet worden sind? Also diese Gruppen-Untersuchung ist nicht möglich. Es gibt auch keine Möglichkeit, Netzwerke festzustellen: Meine Mutter war in dem Zug nach Treblinka. Wer war eigentlich noch mit in dem Zug? All diese Netzforschungsthemen, die für die Forschung, aber auch für die Familien interessant sind und wichtig sind. Die werden erst möglich sein, wenn wir diese intensive, technisch unterstützte Auswertung dieser Fragebögen haben.“

Entwürdigende Prüfverfahren

In jeder Einzelfallakte sind ganze Lebensläufe der verfolgten Juden und Jüdinnen, der Sinti und Roma oder der politisch Verfolgten nachvollziehbar. Denn alle, die nach 1945 einen Antrag auf Entschädigung stellten, mussten den gleichen Fragebogen ausfüllen.
„In den Einzelfallakten wird die Beziehung zwischen den Betroffenen und der Behörde widergespiegelt, sprich: ‚Wir glauben Dir nicht! Bitte lege etwas vor, es müssen Beweise nachgebracht werden.‘ Und dieses Verfahren ist von den Betroffenen teilweise auch als entwürdigend empfunden worden, weil ärztliche Gutachten vorgelegt werden mussten. Und manchmal hat man tatsächlich den Eindruck, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sehr zurückhaltend waren bei der Anerkennung von Schäden oder Verfolgungsmaßnahmen.“
Mehr als 80 Milliarden Euro hat die Bundesrepublik für die Entschädigung ausgegeben seit den 50er-Jahren. Der größte Teil ging an Überlebende und Nachfahren in Israel und anderen Staaten. Aber: Wovon hing es ab, ob jemand Geld bekam, seinen Besitz wiedererlangte oder nicht? Ob willkürlich entschieden wurde, ob es regionale Unterschiede gab – auch das lässt sich in digitalen Clustern viel besser herausfinden, so Rehm.

Gesamtbiografie einer Person im Auge

„Hier hatten wir so einen typischen Fall. Das beginnt 1947. Er bekommt immerhin eine kleine Abschlagszahlung schon gleich, und das Ganze läuft. Ich darf jetzt einmal blättern…“ - Rehm hat einen faustdicken Aktenstapel voller vergilbter, eng beschriebener Papiere vor sich. Die Geschichte eines verfolgten Kommunisten, der um seine Entschädigung kämpft.
Eine Hand arrangiert ein Dokument auf schwarzem Untergrund. Darunter liegt eine Farbkarte.
Digitalisierung von Dokumenten in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem - deren Datenbanken gelten als Vorbild für das deutsche Projekt.© picture alliance / AP Photo / Sebastian Scheiner
„Tatsächlich mit ärztlichen Gutachten und Ähnlichem bis Ende der 60er-Jahre. Weil natürlich auch später wieder Gesundheitsschäden auftraten, die dann auf die Haft zurückzuführen waren. Wir kriegen jetzt Punkte, wo wir die Gesamtbiografie einer Person viel stärker im Auge haben als nur die reinen Entschädigungsfonds. Sie haben Beweise sozusagen, die Betroffene vorgelegt haben, um zu zeigen, was sie geleistet haben. Jetzt neu entdeckt sind zum Beispiel Noten, die Musiker vorgelegt haben, um zu zeigen: Hört mal, wir gehörten in der Weimarer Republik zur Elite der Schlagerschreiber, bitte entschädigt uns entsprechend.“

Nachfahren, die Aufklärung suchen

Auch für Nachfahren soll das Online-Portal eine Erleichterung darstellen. Vorbild seien die Datenbanken in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Israel. Denn die Hälfte aller Anfragen in Ludwigsburg komme von Familien der Holocaust-Überlebenden oder Ermordeten. „Was wirklich überraschend ist, dass auch Familien kommen, die eigentlich selber Aufklärung wollen, weil in den Familien der Betroffenen über das Schicksal nicht gesprochen wurde.“
Die Federführung für das „Archivportal D Wiedergutmachung“ hat das Bundesarchiv. Die Bundesländer sollen nach dem Muster Baden-Württembergs jetzt Schritt für Schritt loslegen. Das Bundesfinanzministerium hat im Juni Projekt und Portal offiziell gestartet. Nach und nach werden die Akten online zugänglich gemacht. Für das kommende Jahr sind elf Millionen Euro bereitgestellt. Die Gesamtkosten seien aber noch völlig unklar. Auch die Gesamtdauer: Bis zu 20 Jahre könne es dauern, bis der ganze Bestand digitalisiert ist, schätzen Expertinnen und Experten.
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