Digitalisierung

Estland setzt auf eine Zukunft ohne Papier

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Blick in eine Ausstellungshalle, in der Schriftzeichen und Grafiken zu sehen sind.
Eine Ausstellung in Tallinn widmet sich den digitalen Errungenschaften Estlands. © picture alliance / AP Photo / David Keyton
Von Carsten Schmiester · 21.08.2019
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Estlands Regierung arbeitet papierlos. Bürger gehen ins Netz statt aufs Amt. Gewählt wird per Mausklick. Praktisch. Der Nachteil: Hacker können die Verwaltung lahm legen und Daten der Bürger ergattern. Ist der E-Staat wirklich ein Vorbild für Deutschland?
Die Begeisterung der Esten für alles Digitale, auch ihr im Vergleich zu uns unbesorgter Umgang damit, hat eine einfache Erklärung und die heißt "Tiigrihüpe" – Tigersprung. Damit haben sie sich aus der dunklen Ära der, wie sie es sagen, "sowjetischen Besatzung" nicht nur in die moderne Gegenwart, sondern eigentlich gleich in die Zukunft katapultiert.
"Tiigrihüpe" steht für ein 1997 aufgelegtes ehrgeiziges Programm: erst zur Digitalisierung der Schulen und im weiteren Sinne zum Wandel des kleinen Staates von einer Kommunikationswüste in eine digitale Ökonomie und Demokratie. Mit einem in der Verfassung verankerten Recht auf kostenlosen Internetzugang, einer beispiellos vernetzten Politik und Verwaltung und einer eigenen "Informationssystembehörde" im siebten Stock eines eher schmucklosen Hochhauses am Rand der Tallinner Innenstadt.
Dort arbeitet Margus Arm: "Alle Bürger haben einen digitalen Personalausweis mit Chip und PINs und der Staat bietet ihnen so um die 1500 digitale Dienstleistungen an. Man geht also nicht mehr zur Behörde, sondern ins Internet, um Anträge zu stellen, die Steuererklärung zu machen oder was auch immer."
Das ist praktisch, geht schnell, spart Zeit und Geld. Aber die Esten geben auch sehr viele sehr private Daten ins System, selbst Arztberichte und Rezepte. Sie sind für den Staat "gläserne" Bürger, und fühlen sich dennoch sicher, sagt Arm: "Ich kann online nachprüfen, wer sich wo meine Daten angeschaut hat. Und wenn das ohne Grund passiert ist, dann wird der- oder diejenige sofort entlassen."

Mit wenigen Klicks zum eigenen Unternehmen

Das genügt Privat- und auch Geschäftsleuten offenbar als Garantie. Das Risiko gilt als gering im Gegensatz zum Nutzen: Es dauert nur Minuten, um ein Unternehmen online zu gründen. Oft sind es Start-ups wie "Click And Grow" aus Tallinn. Seit neun Jahren verkauft Gründer Mattias Lepp Fertig-Sets zum Ziehen von Kräutern, Tee, Früchten oder Salaten in der eigenen Wohnung. Das Geheimnis: eine spezielle Erde, die Wasser besser speichert, den PH-Wert und die Nährstoffzufuhr reguliert.
Diese Pflanzen wachsen überall, sagt er, aber Unternehmen wie seines tun das am besten hier in Estland: "Wir haben ein gutes Image, Hightech eben. Vor allem für Europäer und Amerikaner sind wir eine Art Bindeglied zwischen Natur und Technologie."

Sicherheitslücke führte zu gesperrten Personalausweisen

Dieses Image war aber vor noch gar nicht lange Zeit in akuter Gefahr. Genauer: im Herbst 2017. Die EU-Staats- und Regierungschef hatten sich gerade zum "Digitalgipfel" in Tallinn getroffen und das kleine Land als großes Vorbild bewundert, da mussten plötzlich die Personalausweise von etwa 800.000 der rund 1,3 Millionen Esten gesperrt werden. Grund: eine Sicherheitslücke im Mikrochip.
Peinlich für Estland, das eben noch Europas digitales Vorzeigeland war und plötzlich ein riesiges Sicherheitsproblem hatte. So riesig, dass Staatspräsidentin Kersti Kaljulaid sogar den nationalen Sicherheitsrat einberufen musste. Dort wurde die Sperrung der betroffenen Karten beschlossen und als neue Strategie – Schadensbegrenzung: "Wir sind weltweit wirklich die einzigen, die eine digitale Gesellschaft haben, einen von E-Dienstleistungen abhängigen Staat. Bildlich gesprochen stehen wir in der ersten Reihe. Deshalb können uns solche Sachen passieren und anderen Ländern nicht. Wir haben diese Krise aber ziemlich gut bewältigt."
Wie man es nimmt: Die Verwaltung lief auf einmal nicht mehr rund. Die Mitarbeiter mussten auf klassische Krankenakten, auf Post- und Kurierdienste zurückgreifen. Menschen mussten wieder "aufs Amt" gehen und da stundenlang warten, selbst für das Update ihrer gesperrten Karte.
Ein digitaler GAU, auch wenn die Präsidentin versucht, das Beste daraus zu machen: "Für den Moment ist die Gefahr wohl beseitigt und die Erneuerung der Kartenzertifikate geht zügig voran. Aber das Risiko ist ja niemals Null – wie, wenn wir mit dem Auto fahren. Wir nutzen digitale Geräte, surfen im Internet auch ohne ID-Karte. Damit gehen wir Risiken ein. Wir Esten haben jetzt eine Lehrstunde erhalten und wissen, wie wir die Verwaltung eines E-Staates künftig besser schützen." Inzwischen sind die potenziellen Datenlecks wieder gestopft und Estland ist in die Zukunft zurückgekehrt.

Ein Vorbild für Deutschland?

Professor Thomas Hollstein ist Computer-Experte. Er arbeitet in Frankfurt und an der Technischen Universität Tallin, er kennt also beide Seiten: die hightechgläubigen Esten und die eher skeptischen Deutschen. Datenschutz ist auch für ihn ein großes Thema – aber eher, wenn es um unsichere Handys geht oder Soziale Medien.
Er erklärt: "Während in Deutschland immer alle von 'Big Data' sprechen, setzt man in Estland auf 'Distributed Data'. Die Daten sind also verteilt gespeichert. Durch die Authentifizierung kann nicht der Finanzbeamte auf meine Gesundheitsdaten zugreifen. Und selbst wenn irgendeine Datenbank geknackt wird, da die ja nur einen bestimmten Teilbereich beinhaltet, ist das Risiko ganz einfach minimiert."
Nicht eliminiert, also nicht ausgeschaltet. Offenbar aber so gering, dass Hollstein dieses kleine digitale Estland als großes Vorbild sieht, auch für Deutschland.
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