Digitalisierung der Arbeitswelt

"Der Mensch wird von Routinetätigkeiten entlastet"

Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) steht an einem Rednerpult, auf dem der Titel der Konferenz zu lesen ist: "Arbeiten 4.0"
Bundesarbeitsministerin Nahles will Arbeitnehmern die Angst vor der zunehmenden Digitalisierung nehmen © picture alliance / dpa / Bernd von Jutrczenka
Tim Jeske im Gespräch mit Dieter Kassel · 04.06.2015
Die Digitalisierung führt nicht zwangsläufig zu einer stärkeren Arbeitsverdichtung und zu mehr Stress. Die Frage sei vor allem, wie die Technik gestaltet werde, sagt der Arbeitsexperte Tim Jeske. Mit dem Alter der Beschäftigen habe das nichts zu tun.
Die Einstellung zu modernen Arbeitstechniken sei keine Generationenfrage, sagte Tim Jeske, Experte vom Institut für angewandte Arbeitswissenschaft, im Deutschlandradio Kultur:
"Es ist eher eine Frage der Technikafffinität, wie viel Interesse man daran hat. Und letztlich ist es natürlich auch eine Frage, wie die Technik gestaltet ist. Das heißt, der Zugang muss sichergestellt werden, der Nutzen muss verdeutlicht werden."
Führt moderne Technik zu mehr Arbeitsverdichtung und somit zu mehr Stress? Jeske sieht eher Vorteile: Der Mensch werde von Routinetätigkeiten entlastet.
"Das führt dazu, dass mehr Platz ist, das eigentliche Wissen, das Erfahrungswissen für kreative Tätigkeiten zu nutzen. Sie basieren ja auf Erfahrung und nicht auf Routine."
Zukünftig werde sich vor allem die Art und Weise von Tätigkeiten verändern, so Jeske. Der Akzent werde auf steuernden und nicht mehr auf ausführenden Abläufen liegen, zum Beispiel bei der Mensch-Roboter-Kollaboration:
"Da ist es so, dass der Roboter klassischerweise eher eine hohe Tragkraft hat und eine sehr große und Präzision hat. Und der Mensch natürlich umgekehrt sein Erfahrungswissen mitbringt und eine hohe Fingerfertigkeit hat. Und das lässt sich gut ergänzen."
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat für heute zu einem Zukunftsgespräch mit Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern eingeladen: Es geht um die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Arbeitswelt.


Das Interview im Wortlaut:
Dieter Kassel: Die digitale Zukunft gestalten, das will die Bundesregierung ja immer. Und um das vor allem in der Arbeitswelt zu tun, hat die Kanzlerin heute zu einem Treffen eingeladen, auf dem sie mit Vertretern von Gewerkschaften und Arbeitgebern über die digitalen Arbeitswelten sprechen will, die uns allen bevorstehen. Auch Arbeitsministerin Andrea Nahles ist natürlich dabei und verspricht sich ziemlich viel von diesem Treffen.
Wir wollen schon jetzt die eine oder andere Antwort finden, zusammen mit Tim Jeske. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für angewandte Arbeitswissenschaft in Düsseldorf, einem Forschungsinstitut der Metall- und Elektroindustrie, und er ist dort vor allem für das Thema Industrie 4.0 verantwortlich. Schönen guten Morgen, Herr Jeske!
Tim Jeske: Schönen guten Morgen!
Kassel: Wie kann man denn Menschen die Angst davor nehmen, dass die digitale Zukunft ihres eigenen Arbeitsplatzes sie bald überfordern könnte?
Jeske: Na ja, nun, die Digitalisierung ist ja an sich erst mal nichts Neues. Sie hat ja schon längst begonnen. Denken Sie nur mal daran, wie heute Briefe oder auch Texte geschrieben werden. In den Sekretariaten und Vorzimmern sind, denke ich, weitgehend die Schreibmaschinen verschwunden. Stattdessen stehen dort schon längst Computer, die mit entsprechender Software dann doch diese Arbeitstätigkeit sicherlich erleichtert haben, und somit hat sich ja eigentlich nur die Tätigkeit verändert, aber sie ist nicht weggefallen.
Die Angst vor der Technik
Kassel: Ist das denn die Frage, ob man das mit offenen Armen aufnimmt, ob man es hinnimmt und akzeptiert oder ob man Angst davor hat, ist das eine Frage des Alters, ist das eine Generationenfrage?
Jeske: Ich denke nicht, dass das eine Generationenfrage ist. Im Zweifel gibt es sowieso immer zwischen den Älteren und den Jüngeren gewisse Generationenunterschiede. Aber es ist, denke ich, eher eine Frage der Technikaffinität, wie viel Interesse man daran hat, und letztlich ist es natürlich auch eine Frage, wie die Technik gestaltet ist.
Beispielsweise: Wenn ich jetzt den Zugang erschwere, indem ich meinetwegen die Schriftgröße sehr klein habe, dann brauche ich mich auch nicht wundern, wenn jemand, der eben aufgrund seines Alters ganz naturgemäß, wie es leider oft vorkommt, nicht mehr so gut lesen kann oder nicht mehr so gut sehen kann, wenn der dann das ablehnt und sagt, das hilft mir nicht, das erschwert mir das Leben.
Es geht ja auch um Technikgestaltung. Das heißt, der Zugang muss sichergestellt werden, der Nutzen muss verdeutlicht werden, und hier gibt es ja auch oft die Möglichkeit, ein Design for all zu schaffen. Es gibt zum Beispiel Untersuchungen, die gezeigt haben, wie der Unterschied ist in der Nutzung von der Maus oder auch einem Touchscreen für Jüngere und Ältere. Und da hat sich herausgestellt, dass sowohl Jüngere als auch Ältere davon profitieren, wenn Touchscreens genutzt werden.
Kassel: Nun soll ja moderne Technik, und jetzt gehen wir mal über die Textverarbeitung hinaus, gehen wir ruhig in den Bereich Produktion, nun soll moderne Technik ja die Arbeit erleichtern, soll einem Aufgaben abnehmen, die Maschinen tatsächlich besser machen können als Menschen. Aber wie kann man denn verhindern, dass diese moderne Technik in Wirklichkeit zu einer weiteren Arbeitsverdichtung führt, zu mehr Stress?
Erfahrungswissen statt Routinetätigkeiten
Jeske: Es geht, wie Sie gerade ja schon gesagt haben, eher um Routinetätigkeiten, die dort sicherlich ersetzt werden, und das führt ja dazu, dass mehr Platz ist, das eigentliche Wissen zu nutzen, das Erfahrungswissen, und für kreative Tätigkeiten, die ja eben auf Erfahrung basieren und nicht auf Routine.
Kassel: Ja, aber das ist im Alltag nicht unbedingt so. Da muss ich gar nicht groß recherchieren, da kann ich aus meinem eigenen Alltag berichten. Natürlich geht da vieles schneller, weil ich durchs Internet und andere Möglichkeiten Informationen schneller finde als früher. Dafür muss ich aber heute auch in die digitalen Maschinen viel mehr hinein tun als früher. Von mir wird durchaus nicht nur erwartet, aufzuschreiben, was ich fragen will, und dann Fragen zu stellen. Ich muss das aufbereiten für das Internet, für diverse Netzwerke und, und, und. Das heißt, auf der einen Seite Zeit sparen, auf der anderen Seite viel mehr Zeit verbringen an der Maschine. Das halte ich schon für ein Problem.
Jeske: Die Frage ist, ob Sie wirklich mehr Zeit an der Maschine bringen, ...
Kassel: Ja.
Jeske: ... beziehungsweise wenn moderne Assistenzsysteme und Hilfsmittel, moderne Software, die an Ihre Bedürfnisse angepasst ist, Ihnen Ihre Tätigkeit erleichtern und Sie den gleichen Inhalt in weniger Zeit schaffen, dann kann ich da nicht erkennen, dass sich dadurch die Arbeit verdichtet.
Angenommen, Sie sparen die Hälfte der Zeit durch solch eine Software, dann könnten Sie ja rein theoretisch in der gleichen Zeit das Doppelte an Tätigkeit erbringen, ohne dass Sie jetzt mehr getan haben. Das ist einfach ein Produktivitätszuwachs. Und Produktivität ist ja auch wichtig für unseren Standort, gerade auch, wenn wir jetzt an den demografischen Wandel denken.
Der Nutzen von Datenbanken
Kassel: Sie haben das Thema Erfahrung vorhin schon erwähnt. Manche ältere Arbeitnehmer, die lange in ihrem Beruf arbeiten, erfolgreich, in welcher Branche auch immer, machen sich Sorgen, dass bald Erfahrung nicht mehr so wichtig sein wird, weil es viel wichtiger ist, mit der modernen Technik umzugehen, die dann natürlich teilweise mit Datenbanken Erfahrung auch ersetzen kann.
Jeske: Diese Erfahrung bezieht sich ja nun zunächst einmal auch auf das Produkt, was dort hergestellt wird. Also das Wissen um das Produkt, das steht ja erst mal im Zentrum. Dazu kommt dann, dass moderne Technik Hilfsmittel sein kann oder sein soll, mit dem der Umgang natürlich erlernt werden kann. Und ja, es gibt Datenbanken, in denen kann man Wissen ablegen, in denen kann man Wissen speichern, auch das Wissen weitergeben, von den Älteren, Erfahreneren, an die Jüngeren, an den Nachwuchs. Und das ist durchaus auch eine Chance, dieses Wissen systematisch zu erfassen und in seiner Gesamtheit auch zur Verfügung zu haben.
Kassel: Da hätte ich jetzt, nach dem, was Sie gesagt haben, als älterer Arbeitnehmer schon Angst, weil das klingt so, als ob ich mein Wissen einmal abgeben, und dann haben es ja alle.
Jeske: Ganz so einfach ist es dann ja doch nicht. Das Wissen lebt ja auch davon, dass man es weitergibt. Das ist ja nicht einmal aufgeschrieben, und dann steht es fest.
Kassel: Was bedeutet das? Darum soll es ja auch bei diesem Treffen heute gehen, zu dem die Bundeskanzlerin eingeladen hat, für Ausbildung und Fortbildung. Ich meine, Sie haben angefangen mit Textverarbeitungsprogrammen und Ähnlichem, das kann man in der Fortbildung innerbetrieblich sicherlich in der Regel vermitteln, aber bei komplizierteren Angelegenheiten: Werden da manche Arbeitnehmer ihren erlernten Beruf komplett neu lernen müssen?
Die Art und Weise von Tätigkeiten wird sich verändern
Jeske: Komplett neu lernen würde ich so nicht sehen. Das kommt sicherlich auf den Einzelfall auch an. Aber ich denke, es wird die Art und Weise, wie die Tätigkeit ausgeführt wird, verändern. Es geht sicherlich mehr zu steuernden Tätigkeiten als zu ausführenden Tätigkeiten.
Wenn ich jetzt an die Mensch-Roboter-Kollaboration denke, da ist es ja nun mal so, dass der Roboter ja klassischerweise eher eine hohe Tragkraft hat und auch eine große Positioniergenauigkeit, also Präzision hat, und der Mensch umgekehrt natürlich sein Erfahrungswissen mitbringt und eine hohe Fingerfertigkeit hat. Und das lässt sich ja auch gut ergänzen. Und damit werden Menschen ja auch physisch entlastet, das heißt körperlich entlastet, und so wird unterstützt. Und sicherlich verändert das auch die Art, wie die Arbeit erledigt wird, nämlich dann geteilt mit dem Roboter. Aber die Tätigkeit selber entfällt dadurch ja nicht.
Kassel: Die digitale Zukunft der Arbeit. Das ist das Thema von Tim Jeske vom Institut für angewandte Arbeitswissenschaft und das Thema eines Treffens von Regierungsvertretern, Arbeitgebern und Arbeitnehmern heute in Meseberg. Herr Jeske, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!
Jeske: Gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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