Digitalisierung

Brauchen wir ein Recht auf analoges Leben?

07:45 Minuten
Ein dunkelhaariger Mann sitzt auf einem grauen Sofa und hat einen Fuß auf dem Couchtisch abgelegt. Vor ihm ein altmodischer Kassettenrekorder.
Digitalisierung erzeugt auch Zwänge. Kann man sich dagegen wehren? © picture alliance / PHOTOPQR/VOIX DU NORD/MAXPPP | 1
Von Andre Zantow · 15.03.2021
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Schnell gilt als rückständig, wer immer noch mit Bargeld zahlt und lieber vor Ort als online einkauft. Doch ist ein volldigitalisiertes Leben wirklich das bessere? Nein, sagen Kritiker und verweisen auf Datenmissbrauch und Erkenntnisse aus der Hirnforschung.
Karin ist 75. Wir sind verabredet zum Telefonieren übers Festnetz. Ein Smartphone habe sie auch, aber das nutze sie kaum.
"Telefonieren tue ich damit gar nicht", sagt sie. "Ich habe da auch nur eine Karte. Und mehr will ich auch nicht."
Wenn ihr Sohn sie vom Arzt abhole, brauche die Rentnerin das Mobiltelefon. Aber Messengerdienste nutzen, wie es Freunde ihr mal geraten habe: eher nicht.
"Die haben mich ja immer bearbeitet: ‚Mensch, Karin, du musst das ja auch haben, dann können wir dir mal eine Nachricht schicken.‘ Und ich war dann ganz eisern und habe gesagt, ich möchte das nicht. Und dann möchte ich das auch nicht."
Karin ist keine Technikgegnerin, sie habe als Buchhalterin schon mit den ersten Lochkarten-Computern gearbeitet, sagt sie. Und heute verweist sie mit Freude auf ihren vollautomatischen Rasenmäher im Garten: "Oh, der ist ganz toll. Ich habe den nun schon das zweite Jahr."
Und woher weiß der, wo der langfahren muss?
"Ja, da ist der Computer darin. Da muss man wirklich staunen, was der Fortschritt alles so gebracht hat."

Internetverbot - die härteste Strafe für Kinder

Der Fortschritt hat unser Leben in fast allen Bereichen digitalisiert. Einkaufen: aus dem heimischen Wohnzimmer. Die Heizung regulieren: von unterwegs per App. Freunde treffen: überall am Handy. Laut einer Studie des Digitalverbandes Bitkom nutzen 81 Prozent der Menschen in Deutschland ein Smartphone, und der Großteil kann sich ein Leben ohne diese Geräte nicht mehr vorstellen. Das gilt für Kinder inzwischen auch. Zu den härtesten Strafen von Eltern gehört heute Smartphone- oder Internet-Verbot.
"Weil das ein Suchtpotenzial in sich birgt", sagt Reinhard Retzer. "Ich kenne die Kämpfe aus eigener Erfahrung als Vater."
Retzer ist Mittelschullehrer in Oberbayern und Bildungsbeauftragter der Ökologisch-Demokratischen Partei. Die ÖDP erreichte zuletzt genügend Stimmen, um einen Abgeordneten ins EU-Parlament zu schicken, startete die erfolgreiche Initiative "Rettet die Bienen" und forderte im Landtagswahlkampf in Bayern ein Recht auf analoge Kindheit.
"Momentan ist es ja so: Medienkompetenz und digitale Medien sind in aller Munde, und überall kommen Forderungen auf, das möglichst früh den Kindern zu vermitteln. Aber aus Sicht der ÖDP ist es sehr kritisch zu sehen. Und da befinden wir uns in Gesellschaft vieler Psychologen und Kinderärzte. Die Kulturtechniken lernt man nicht am Tablet."

"Da spielen knallharte Wirtschaftsinteressen eine Rolle"

Milliarden zu investieren, um alle Grundschüler mit Tablets auszustatten, hält die ÖDP für den falschen Weg in der Schulpolitik. Bei diesen Digital-Förderprogrammen würden Technikkonzerne wie Samsung als Berater am Tisch sitzen.
"Da spielen knallharte Wirtschaftsinteressen eine Rolle. Dessen muss man sich bewusst sein. Und das ist der Ansatz der ÖDP, wir dürfen unsere Kinder diesen Wirtschaftsinteressen nicht schutzlos ausliefern. Das steckt auch noch mit dahinter."
Auch der ÖDP-Politiker sieht sich nicht als Technik-Feind.
"Momentan Homeschooling: Wir brauchen das! Aber in der Grundschule oder in der Kita sehen wir das sehr kritisch."
Ein junge mit orangenen Kopfhörern sitzt mit Schulbüchern vor einem Computer.
Kritiker wie der ÖDP-Politiker und Lehrer Reinhard Retzer warnen vor zu viel Digitalisierung bereits in Grundschule oder Kindergarten.© imago images / U.J. Alexander
Bis etwa zur fünften Klasse habe eine analoge Kindheit klare Vorteile für die Entwicklung:
"Da spielen auch Erkenntnisse aus der Gehirnforschung eine Rolle. Das soziale Gehirn entwickelt sich durch soziale Erfahrungen und persönlichen Umgang miteinander. Das geschieht im Anblicken anderer und nicht im Anklicken von Links. Für eine umfassende Gehirnentwicklung sind die physische Bewegung im Raum wichtig, begeisternde Sinneswahrnehmungen, Handwerksarbeiten, eigene Ideen und Begegnungen mit anderen Menschen."

Geld zum Anfassen und persönlicher Kontakt

"Der Kontakt mit den Verkäufern. Ich mag das Reden gerne, das Besprechen, das Beraten. Das mache ich gern", sagt Rentnerin Karin.
Sie geht ganz analog in Geschäfte zum Einkaufen. Kein Shopping im Internet. Sie braucht den Kontakt. Genauso wie Geld zum Anfassen:
"Sie reden ja viel davon, dass das eines Tages kommt, dass du gar kein Geld mehr in der Hand hast. Aber da können sie ja nicht einfach so über die Menschheit bestimmen, oder?"
Dieses ungute Gefühl, dass die Digitalisierung immer weitergeht, uferlos wird, einen persönlich abhängt – das bringt nicht wenige zu einer Rückbesinnung auf die analoge Welt. Man könnte fast von einem Trend sprechen, den der Politologe Andre Wilkens mit seinem Bestseller "Analog ist das neue Bio" aufgegriffen hat:
"Was heute als Bio bezeichnet wird, war Anfang des 20. Jahrhunderts Mainstream. Es gab nichts anderes. Dann kam die Industrialisierung mit Maschinen mit Düngern, und das hat die ganze Landwirtschaft erobert. Und es gab ein paar Spinner – gerade in der Schweiz und in Deutschland –, die gesagt haben: Nein, da machen wir nicht mit! Wir machen Landwirtschaft wie eh und je. Die waren 50 Jahre lang Spinner, bis die Nebenwirkungen von industrieller Landwirtschaft zum Vorschein kamen."

Es geht um mehr als Papierbook versus E-Book

Diese "Nebenwirkungen" sieht Andre Wilkens auch bei der Digitalisierung. Spätestens seit den Enthüllungen durch den Ex-US-Geheimdienstmitarbeiter Edward Snowden 2013. Menschliches Handeln landet zunehmend in Serverfarmen, wird analysiert, genutzt von Regierungen, Firmen, Hackern.
"Hoffentlich stimmen mir da viele zu: Mensch ist mehr als Daten! Und Mensch ist mehr als Datenproduzent! Mensch ist mehr als eine Datei in einem großen digitalen System. Darum geht’s. Und nicht um die Frage, ob man ein analoges Buch liest oder ein digitales."
Wilkens Buch endet mit einem Manifest für eine menschliche digitale Welt, in der wir uns fragen müssten: Was ist uns wichtig aus dem früheren analogen Leben? Was müssen wir hinüberretten?
"Freunde sind wichtig, Zusammenkommen, Party, auch was anfassen können. Eigentlich geht es um die Frage: Was ist Mensch? Und was will Mensch? Und kann eine totale digitale Welt das abbilden?"

Was, wenn eine digitale Pandemie alles lahmlegt?

In einer totalen digitalen Welt arbeiten vor allem die Maschinen und ihre Algorithmen. Mit fatalen Folgen – das zeigen schon einige Tech-Konzerne heute, meint Andre Wilkens:
"Wir haben einen digitalen Sektor, der praktisch keine Steuern bezahlt. Er konkurriert gegen einen anlogen Sektor, der Steuern bezahlt und Menschen beschäftigt. Das ganze Steuersystem benachteiligt den analogen Sektor. Also, über das ganze Steuersystem, Wirtschaftslenkungssystem gibt es wahnsinnig viel zu machen."
Und was ist, wenn kein biologischer Virus, sondern ein digitaler unsere Systeme mal lahmlegt in einer künftigen digitalen Pandemie, gibt der Berliner Buchautor zum Ende noch zu bedenken. Dann braucht es wohl mindestens als Backup noch das Recht auf Analog.
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