Digitaler Kummerkasten

Von Michael Engel · 22.04.2013
Jedes Jahr nehmen sich 10.000 Menschen in Deutschland das Leben. Und wahrscheinlich wären es noch viel mehr, wenn es die Telefonseelsorge nicht gäbe. Seit einigen Jahren kümmern sich deren Mitarbeiter auch per Online-Chat - und zwar mit Erfolg.
Wer die Nummer der Telefonseelsorge wählt, kann sicher sein, dass der Anruf anonym bleibt, vertraulich und gebührenfrei! Doch viele, vor allem junge Leute, machen sich einen Spaß daraus, dort anzurufen - und prahlen damit auch noch im Internet.

"Telefonseelsorge, guten Abend!" - "Hallo!" (lacht) - "Wer ist da?" - "Ja, wer ist da?" - "Niemand!" (lacht)"

Das Internetportal "Youtube" quillt über mit pubertären Streichen, die häufig auch unter die Gürtellinie gehen. Im Alltag der Telefonseelsorge ist das zum Glück eher die Ausnahme.

Mehr und mehr Menschen mit Sorgen wählen heute aber nicht mehr das Telefon, sondern den Computer, sagt Pastor Christian Voigtmann von der Telefonseelsorge Hannover:

""Da geht man zunächst auf die Homepage der bundesweiten Telefonseelsorge: www.telefonseelsorge.de. Und da gibt es einen Link zur Chatseelsorge. Dort meldet man sich an mit einem Nickname, den man sich überlegt. Und man taucht mit einem Nickname auf, der nicht zurückzuverfolgen ist."

Es sind mehr die härteren Themen, die in der Anonymität des Chatrooms angesprochen werden, sagt die Pastorin Heike Beckedorf. Gewalt in der Beziehung zum Beispiel. Es melden sich aber auch überdurchschnittlich viele Frauen, die ihr selbstverletzendes Verhalten ansprechen:

"Also es sind viele Menschen, die sich im Chatbereich melden, die ich sehr verwundbar finde. Also mit schwierigen Lebensgeschichten auch und die vielleicht noch stärker, das ist jetzt eine Vermutung, die Anonymität suchen als es jemand tut, der sich noch traut zu sprechen. Also dessen Stimme dann noch hörbar wird. Und dass es Menschen sind, die wirklich schwierige Schicksale tragen und damit auch sehr zu tun haben."

Über ein Problem zu chatten - tonlos, still, mit den Fingern tippend - das dauert in jedem Fall länger als am Telefon zu sprechen: Oft vergehen viele Minuten, bis eine Antwort auf dem Bildschirm erscheint. Häufig dauert der Austausch im Internet zwei bis drei Stunden und damit deutlich länger als ein Telefonat. Die Intensität leidet dabei nicht, obwohl doch nur die Tastatur zum Einsatz kommt.

"Und das kann dann sein, dass Dinge angesprochen werden, die man am Telefon dann vielleicht nicht so sagen würde, weil man sich dafür schämt oder sich nicht traut. Oder andere Gründe hat, es zu lassen. Da gibt's ja dann auch so Abkürzungen, die ein bisschen dann so von den sprachlichen Nuancen wieder aufnehmen, als wenn man wirklich Töne von sich gibt, die nicht in Worte zu fassen sind. KP - kein Plan. Gesicht nach unten gezogen. Die tauchen in diesen Kürzeln wieder auf."

Im Vergleich zur Seelsorge mit dem Telefon ist die Chatseelsorge noch ein zartes Pflänzchen. Zum Telefon greifen im Laufe eines Jahres zwei Millionen Menschen in Deutschland. Bei der Chatseelsorge sind es gerade mal 5000 - Tendenz allerdings seit Jahren steigend. Zwei Drittel sind Frauen, die meisten um die 20 oder etwas älter. Die über 50-Jährigen hingegen haben die Online-Seelsorge für sich noch nicht entdeckt. Noch einmal Heike Beckedorf:

"Im Moment mache ich lieber Chatseelsorge. Ich finde es interessant, also die Fragestellung mitzubekommen, ob sich Dinge wirklich auch verändern, also dadurch, dass Virtualität und Realität immer weiter sich verzahnen: Macht es einen Unterschied, ob ich mich virtuell verliebe oder in echt? Und es scheint immer weniger einen Unterschied zu machen nachdem, was ich mitbekommen habe. Also das finde ich hochinteressant, mir diese Fragen zu stellen, und da ein bisschen zu schnuppern und da reinzuwachsen."

"Telefonseelsorge Berlin, guten Tag! … Erzählen Sie mir doch, was passiert ist!"

Wie schon bei der Telefonseelsorge basiert auch die Chatseelsorge auf dem Zwiegespräch. Ein Seelsorge-Forum für mehrere Personen gleichzeitig, wie in den Kummer-und-Sorge-Foren üblich, soll es nicht geben. "Skype" beziehungsweise Bildtelefonie via Computer sind ebenfalls keine Option, sonst gäbe es keine Anonymität mehr. Und auch beim Datenschutz gibt es keine Kompromisse, unterstreicht Pastor Christian Voigtmann:

"All das, was hier an Informationen von Anrufern und Chattern bei uns kommt, wird dann auch nicht gesammelt, nicht irgendwo gespeichert, sondern vernichtet, wenn die Gespräche zu Ende sind. Das gehört zu der Anonymität und zum Schutz der Anrufenden und Chattenden mit dazu."

Online-Gottesdienste, Chatseelsorge, internetbasierte Predigten: Die Welt der Computer wandelt sich sehr schnell, und die Kirchen ziehen mit. Nur draußen bleibt vieles beim Alten: Menschen mit Beziehungsproblemen, mit Ängsten vor der Zukunft, Verarmung, Krankheit, Einsamkeit. Seelsorge ist da nötig, sagt Pastor Christian Voigtmann - analog oder online: "Wir fühlen uns in der Pflicht."


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