Digitale Agenda

Wider die sturen Humanisten

Zwei LAN-Kabel sind durch einen Knoten verbunden.
Zwei LAN-Kabel sind durch einen Knoten verbunden. © dpa / picture alliance / Arno Burgi
Von Arno Orzessek · 24.08.2014
Man könne von der Digitalen Agenda der Bundesregierung keinen philosophischen Tiefsinn verlangen, sondern möglichst feste Zusagen für neue Breitband-Anschlüsse. Doch die Regierung habe nur eine Raserei der Einzelheiten offenbart, kommentiert Arno Orzessek.
Wer gern Wahlprogramme liest, wird auch die "Digitale Agenda" mögen: Was für ein grelles Absichts-Stakkato!
Sicher ist: Die Bundesregierung hält die "digitale Transformation" für unumkehrbar. Und sie sähe Deutschland gern an der Spitze der Entwicklung ...
Weshalb es vor Schlüsselwörtern wimmelt: Industrie 4.0, Smart Services, Big Data, Green IT, Tele-Medizin und so weiter.
Das und noch viel mehr will die Regierung fördern. Und warum? Plötzlich ertönt das alte Mantra: um "Wachstum und Beschäftigung" zu sichern ...
Denn, bitte schön, unsere Regierung stellt "die Menschen in den Mittelpunkt aller Entwicklungen".
Nicht nur bärbeißige Anti-Humanisten dürften hier die Stirn runzeln.
De facto - die Agenda selbst zeigt es - steht die Technik im Mittelpunkt der relevanten Entwicklungen. Die Menschen aber stehen drum herum und staunen, wie gründlich Digitalisierung und Vernetzung sämtliche Lebensverhältnisse umkrempeln ...
Und zwar in Prozessen, die niemand steuern kann. Verräterischerweise heißt es in der Agenda immerzu "wir wollen", "wir wollen", "wir wollen". Aber ob's klappt?
Bestimmt, ... würde Jeremy Rifkin einwerfen.
Der amerikanische Gesellschaftstheoretiker hat kürzlich "Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft" veröffentlicht, ein Buch, das die Chancen des digitalen Wandels unter Auslassung fast aller Risiken in einem rosaroten Zukunftsbild bündelt und den leisen Optimismus der Agenda bei Weitem übertrifft.
Vor allem dank des famosen "Internets der Dinge" - der auf Rückkopplung und Optimierung zielenden Zusammenschaltung von Sensoren und Apparaturen - entsteht laut Rifkin eine Überfluss-Gesellschaft. Die Menschen überwinden Kapitalismus und Materialismus, retten die Biosphäre und regeln ihre Belange in "Commons", das heißt, in Allmende-artigen Gemeinschaftssphären zwischen Staat und Markt.
Der digitale Wandel
Spannend an Rifkins utopischem Wunschpunsch ist aber nicht das sonnige Weltbild, sondern die implizite Unterstellung, der digitale Wandel führe die Menschen wie von selbst ins irdische Paradies.
Nun mag es sein, dass der reale Weg in die Hölle führt. Trotzdem bleibt die Frage: Sind die digitalen Apparaturen bloß Vollstrecker menschlicher Fähigkeiten, also letztlich patente "Organprojektionen", wie sie der Technikphilosoph Ernst Kapp im 19. Jahrhundert gedacht hat, oder sind sie längst Akteure mit eigenen Gesetzmäßigkeiten?
Martin Heidegger beschrieb 1953 in die "Die Frage nach der Technik" Tendenzen, die das Zweck-Mittel-Verhältnis von Mensch und Apparat umkehren. Die moderne Technik sei das Gestell, das die Dinge stellt - und nicht mehr der Mensch.
Selbst sturen Humanisten dürfte dämmern, dass die Wucht der digitalen Transformation Heideggers Argumente eher stärkt als schwächt. Die unbequeme, politisch inopportune Pointe wäre: Nicht wir haben die Technik, die Technik hat uns.
Was banal klingt, wenn man's flapsig sagt, und schwer wiegt, wenn man's ernst nimmt.
Nun wird man von einer Agenda der Bundesregierung keinen philosophischen Tiefsinn verlangen, sondern möglichst feste Zusagen für neue Breitband-Anschlüsse. Doch die Menge der Machbarkeits-Phrasen und die Raserei der Einzelheiten offenbart: Die Autoren haben keinen scharfen Begriff davon, dass die digitale Technik eine in historischer Perspektive einmalig dichte Super-Struktur in und über der Gesellschaft und damit auch der Politik bildet.
Zu ihrer Entlastung wäre zu sagen, dass der Schwall der Innovationen gründliches Bedenken wahnsinnig erschwert. Technikphilosophie ist beileibe kein Renner.
Und trotzdem! Immer, wenn da breitbrüstig steht "Wir wollen ..." dies und das und jenes, dann hat man das Gefühl: Hier will der Schwanz mit dem Hund wedeln.
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