Digital Humanities

Wunderwerkzeuge für Geisteswissenschaftler

Eine Frau schreibt mit einer Schreibfeder in altertümlicher Schrift.
Mit moderner Computertechnik können auch historische Briefwechsel besser erforscht werden. © picture-alliance/ dpa / Bernd Thissen
Von Jochen Stöckmann · 15.06.2015
Die noch relativ junge Disziplin der "digital humanities" versucht, geisteswissenschaftliche Forschung mit Informationstechnik voranzubringen. Für herausragende Projekte - zum Beispiel ein Tool zur Erforschung von Briefeditionen - wurde jetzt erstmals in Berlin ein Preis verliehen.
Maximilian Schich: "Die Benutzer laden jeden Tag 350 Millionen Bilder in Facebook hoch. Das heißt, wenn sie zwei Monate diese Bilder haben, haben sie wahrscheinlich alle Kunstwerke, die auf der Welt frei rumhängen, wo Leute Selfies davor machen. Das heißt, die Kunstdatenbank von Facebook ist wahrscheinlich größer als die aller Museen zusammengenommen.

Preisträger des Berliner Digital Humanties Preises 2015 
• 1. Preis: Stefan Dumont "correspSearch – Verzeichnisse von Briefeditionen durchsuchen", Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
• 2. Preis: Prof. Dr. Oliver Janz, Prof. Dr. Nicolas Apostolopoulos, Dr. Klaus Ceynowa und Projektteam "1914-1918-online. International Encyclopedia of the First World War", FU Berlin und Bayerische Staatsbibliothek
• Nachwuchspreis: Florian Barth "Das Werk Bertolt Brechts und seine Mitarbeiter", FU Berlin

Begeistert ist der Kunsthistoriker Maximilian Schich von den Möglichkeiten der "digital humanities", der datengetriebenen, von Hochleistungsrechnern beförderten Geisteswissenschaften, wie er sie als Professor im US-amerikanischen Dallas betreiben kann. Die Daten der Geburts- und Todesorte von 120.000 Personen der Zeitgeschichte hat Schich zu einem globalen Migrationsschema zusammengeführt:
"Was wichtig ist in diesem Plot: Gucken sie sich einen Ort an wie Hollywood, da sterben zehn Mal so viele bekannte Persönlichkeiten, als dort geboren werden."
Keine umstürzende Erkenntnis, aber im Festvortrag zur erstmaligen Verleihung der Preise eines Berliner Forschungsverbundes Digital Humanities kommt Schich schnell auf Vorzüge und Differenzierungsmöglichkeiten seines Vorzeigeprojekts zu sprechen:
"Wenn sie die Leute nach Genres runterbrechen, dann sterben die Regierungsbeteiligten in der Französischen Revolution in Paris verstärkt. Aber die Architekturbeteiligten tun das auch: Entweder bauen die wie Gottfried Semper selber mit an der Barrikade oder sie sind nah am Herrscher. Das Problem ist aber, dass das für andere Künstler wie Maler überhaupt nicht zutrifft: Die sterben sogar weniger während der Französischen Revolution."
Interpretation der Daten-Bilder
Diese Abweichung kann sich ein Computer nicht erklären. Er gleicht zwar in Windeseile riesige Datenmengen ab, errechnet aus seinem hastigen Wissen aber keine Hypothesen, sondern stößt graphische Cluster aus, Datenwolken. Darüber beugt sich dann der digitale Humanist wie einst seine Renaissance-Vorläufer über illuminierte Manuskripte:
"Man wird in diese Wolke geführt, und diese Wolke führt natürlich zu Unsicherheit, zu Depression. Da muss man Strategien entwickeln, wie man darüber hinauskommt. Und wenn man nicht an einen Ort kommt, der einem vorher unbekannt ist, dann hat man irgendetwas falsch gemacht. Dann hat man ja nichts Neues rausgefunden."
Mit Visualisierungsalgorithmen weist der Rechner den Weg. Exotisch schöne Muster oder groteske Zusammenballungen signalisieren statistische Besonderheiten, verraten womöglich bislang unbekannte kulturhistorische Zusammenhänge.
Aber einstweilen werden diese aufwendigen Forschungsergebnisse fürs Publikum zurückübersetzt in eingängige, eher banale Strickmuster: Wie strahlenförmige Diagramme zum weltweiten Containerverkehr, zum Warenumschlag zwischen Ländern und Kontinenten sehen diese Schaubilder aus:
"Ein Paradigma, das wir aus dem Flugzeug kennen, wenn sie die letzte Seite von dem Airline-Heftchen aufschlagen, dann sehen sie die schönen Bögen. Das muss man für eine breitere Öffentlichkeit machen. Wir können nicht Visualisierungsparadigmen verwenden, die völlig neu sind."
"Methodische Innovation"
Genau das aber wird von den Preisträgern im neuen Berliner Forschungsverbund erwartet: "methodische Innovation", wie es in einem "Aufruf zur nachhaltigen Förderung der Digital Humanities" aus dem vergangenen Jahr heißt.
Der zweite Preis, die Weltkriegsenzyklopädie "1914-1918 online", inszeniert diese Innovation allenfalls oberflächlich: In bislang 700, am Ende 1600 Artikeln werden längst bekannter Ergebnisse historischer Forschung in der bewährten Form einer Enzyklopädie dargeboten, nur eben multimedial und immerhin durch "Metadaten" und "Open Access" jederzeit und für jedermann zugänglich.
Dann aber tritt Jury-Mitglied Ralf Stockmann von der Staatsbibliothek Berlin ans Mikrofon, und beklagt den gegenwärtigen Stand bei der digitalen Erschließung handschriftlicher Korrespondenzen etwa des 18. Jahrhunderts:
"Dass Briefeditionen Datensilos sind, die nicht miteinander in Bezug getreten sind. Die Besonderheit dieses Projekts – der erste Preis wird verliehen an das Projekt correspSearch – liegt nun darin, dass es ein Tool bietet, beliebige Briefeditionen miteinander in Beziehung setzen zu können."
Wie das per Mausklick geht, demonstriert der Projektleiter mit Zitaten aus Briefen des Publizisten Friedrich von Buchholz, der Salondame Rahel Varnhagen und von Goethe zur Besetzung Berlins durch die napoleonische Armee 1806. Ein detailgesättigtes Panorama jener Zeit tut sich auf vorm geistigen Auge der Zuhörer. Nicht aufgrund nackter Daten – die stehen ja nur am Anfang dieser Briefe – sondern durch das literarische Gewebe individuell ausgeschmückter Fakten, Ereignisse, Erlebnisse.
Die aber wären – das sei zugegeben – ohne dieses Tool aus der digitalen Werkzeugkiste der Geisteswissenschaften noch auf lange Zeit verschüttet geblieben unterm Datengebirge. Noch einmal: correspSearch heißt das Wundermittel.
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