Digicore

Kurz, chaotisch und eklektisch

08:55 Minuten
Mischpult in violettem Licht
Wie das Scrollen durch TikTok oder Instagram: Digicore-Songs sind oft ein bis zwei Minuten lang, sehr chaotisch und eklektisch. © Unsplash / Marcela Laskoski
Von Mathis Raabe · 09.11.2021
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Ein musikalischer Trend des 21. Jahrhunderts sind Mikrogenres. Das Netz macht es möglich: Junge Menschen aus aller Welt finden sich zusammen, um sich in der Nische kreativ auszutoben. Letztes Jahr drehte es sich um Hyperpop, jetzt steht Digicore vor der Tür.
"Witch House", "Vaporvave" und zuletzt "Hyperpop": Das alles sind Musikgenres, die durch YouTube oder Soundcloud ein großes Publikum abseits des Mainstreams fanden. Die Weiterentwicklung des letzten heißt Digicore – und sein größter Star, der 16-jährige Glaive aus North Carolina, hat mit seinem Hit "I Wanna Slam My Head Against The Wall" bereits acht Millionen Aufrufe auf Spotify erzielt.

Durch Soundcloud-Rap, Emo und Pop-Punk beeinflusst

Wo Hyperpop mit Bands wie 100 Gecs sehr maximalistisch daherkam und sich stark an aufwendigen 2000er-Pop-Produktionen orientierte, geht Digicore eher in die LoFi-Richtung. Der Gesang ist melodisch und man merkt, dass die zumeist minderjährigen Protagonist:innen der Szene durch Soundcloud-Rap, aber auch dem Revival von Emo und Pop-Punk, beeinflusst wurden.
Die Digicore-Gemeinde ist dabei sehr durch das Internet vernetzt. Schlüsselfiguren dieser Szene, wie etwa Glaive, sind auf einen Discord-Server zurückführen, wo sie sich vor etwa drei Jahren kennengelernt haben. Das ist ein Chatservice, der ursprünglich vor allem für Videospiele genutzt wurde, aber heute allen möglichen Themen eine Heimat bietet.
Durch die starke Vernetzung haben sich auch Support-Strukturen unabhängig von der Musikindustrie entwickelt. Das vermittelt den Eindruck, dass es der Szene nicht wichtig ist, zum Beispiel ein Label-Vertrag zu unterschreiben, sondern dass man wirklich gemeinsam wachsen will. Das zeigt sich auch an einem Streit, der sich über die Pflege einer Spotify-Playliste entwickelt hat.

Streit um eine Playlist

Der Streamingdienst hatte nämlich eine Hyperpop-Playlist eingeführt, die auch vielen Digicore-Acts zu Ruhm verhalf und regelrecht zu einem Politikum wurde. Sie wurde von verschiedenen Hyperpop-Künstlern gastkuratiert und es gehörte schnell zum guten Ton, jungen Künstlerinnen und Künstlern Reichweite zu verschaffen. Als A.G. Cook, Labelchef von PC Music und - man könnte fast sagen - der Erfinder von Hyperpop, dann Madonna und Kate Nash in der Playlist spielte, gab es sofort rege Kritik.
Musikalisch fügt sich Digicore in die Online-Erfahrungen der jungen Zielgruppe sehr gut ein. Die Songs sind oft ein bis zwei Minuten lang, sehr chaotisch und eklektisch – etwa so, wie sich auch Scrollen durch TikTok oder Instagram anfühlt. Manchmal hört man dann sogar im Beat noch den Benachrichtigungston von irgendeiner App.
In der Szene scheint man noch unsicher zu sein, wie man mit dem aktuellen Erfolg umgehen soll. So haben sich die beiden wohl größten Acts des Digicore sehr unterschiedlich entwickelt. Osquinn war der Trubel nach ihrem Hit zu viel. Sie hat sich zurückgezogen. Erst vor zwei Monaten ist sie zurückgekehrt.

Glaive macht jetzt Karriere

Glaive macht hingegen große Karriereschritte. Er ist auch der erste Digicore-Künstler mit Majorlabel-Vertrag, sein Sound ist weniger sperrig als der vieler Kolleginnen und Kollegen. Er verzichtet zum Beispiel auf die vielen Effekte auf der Stimme, die in diesem Bereich sonst allgegenwärtig ist. Seine ruhigen Parts kommen fast folkig daher. Außerdem steht seine schöne Singstimme im Vordergrund und man hört, dass er Melodiegefühl hat. Von Glaive wird man also vermutlich noch öfter hören - und ihn sogar in den Charts sehen.
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