"Dieses Abschlachten muss einfach ein Ende haben"

Moderation: Liane von Billerbeck · 30.11.2010
Täglich sterben Dutzende Menschen im mexikanischen Drogenkrieg. Vor allem junge Heranwachsende sind unter den Opfern. Für die Künstlerin Teresa Margolles ist es das "Aussterben einer ganzen Generation". Im Kasseler Fridericianum stellt sie jetzt Fundstücke der Todesopfer aus: Uhren, Schmuck, Armbänder.
Liane von Billerbeck: Schießereien zwischen rivalisierenden Banden und Soldaten gehören im Norden Mexikos zum Alltag. Schüler lernen, wie man sich bei Schusswechseln in Sicherheit bringt, bestimmte Autobahnabschnitte sollte man tunlichst nicht befahren, wenn einem das Leben lieb ist, die Bestattungsbranche ist ein boomender Wirtschaftszweig. Schlaglichter aus Mexiko, einem Land, das mehr und mehr vom Drogenkrieg geprägt ist und in dem viele Tausend Menschen sterben. Aus der Stadt Ciudad Juárez, einer Millionenstadt, sind deshalb in den vergangenen drei Jahren 230.000 Menschen geflüchtet.

Was der gewaltsame Tod vieler mit den Lebenden macht, das wollen wir von der Künstlerin Teresa Margolles erfahren, deren Installationen vor allem durch die Erfahrungen in ihrem Zweitberuf als Gerichtsmedizinerin geprägt sind.

Darüber, was der Umgang mit dem gewaltsamen Tod vieler Menschen über die Lebenden verrät, das wollen wir jetzt mit Teresa Margolles besprechen. Die mexikanische Künstlerin und Gerichtsmedizinerin ist aus Kassel zugeschaltet. Frau Margolles, ich grüße Sie!

Teresa Margolles: Buenos Dias!

von Billerbeck: Sie haben als forensische Medizinerin in Mexiko-Stadt gearbeitet, was für Spuren von Gewalt sahen Sie da Tag für Tag auf Ihrem Seziertisch?

Margolles: Ich war über einen Zeitraum von sechs Jahren fast jede Woche im Leichenschauhaus. Ich bin dort immer hingegangen und habe dort hautnah die Anfänge der Gewalt in Mexiko mitbekommen, wie sie sich bis heute entwickelt hat.

von Billerbeck: Was hat sich in diesen sechs Jahren verändert, seit Sie das beobachtet haben?

Margolles: Man kann sagen, dass die Leichenschauhäuser in Mexiko so eine Art soziales Thermometer darstellen – es zeigt sich dort, wie die Menschen sterben, und das ist mit der Zeit immer offener geworden und es hat sich immer mehr nach draußen verlagert. Das habe ich so für mich festgestellt. Und das hatte auch zur Folge, dass ich schließlich nicht mehr in die Leichenschauhäuser gegangen bin, um dort zu arbeiten, sondern direkt auf der Straße angefangen habe. Also ich habe die Reste der Toten auf der Straße sozusagen verwendet für meine Kunst und mit diesen Resten gearbeitet, die ich auf der Straße gefunden habe.

von Billerbeck: Was haben Sie da gefunden, was hat das über das Leben der Toten erzählt und über ihr Sterben?

Margolles: Als ich anfing, auf die Straße zu gehen, fand ich diese menschlichen Reste vor, oft die Ergebnisse von sogenannten beglichenen Rechnungen in den Drogenkriegen oder Ähnlichem, also die Opfer von Gewalttaten. Und mit diesen Resten fing ich an zu verstehen, was für eine Tragödie das eigentlich war, die Mexiko da erlebte, welche Tragödie unser Land erfuhr und wie man sozusagen diese Körper bewaffnet hat mit den Fragmenten, die ich dort gefunden habe.

von Billerbeck: Oft gehören ja die eines gewaltsamen Todes Gestorbenen zu den Ärmsten der Armen. Deren Familien konnten sich oft eine Bestattung gar nicht leisten. Was bedeutet so etwas in einem Land, gerade in einem Land wie Mexiko?

Margolles: Ja, die Toten waren anfangs schon die, die zum ärmsten Teil der Bevölkerung zu rechnen waren, aber jetzt ist das nicht mehr so, jetzt sterben auch Menschen aus der Mittelklasse und aus der Oberschicht. Es ist also nicht mehr nur eine einzelne Schicht, es ist das ganze Land betroffen.

von Billerbeck: Früher hatte man ja den Eindruck, und Sie sicher auch, dass der Drogenkrieg in Mexiko sich nur an bestimmten Orten abspielte, inzwischen hat er – Sie beschreiben das ja ganz deutlich – andere Schichten erfasst und wahrscheinlich das ganze Land, und dieses Land verändert sich. Ein Schriftsteller, Juan Villoro, hat gesagt, sein Land gehe dunklen Zeiten entgegen, Mexiko zerstört sich gerade selbst, ohne dass irgendein Hoffnungsschimmer zu sehen wäre. Wie prägt dieser Drogenkrieg das Land Mexiko?

Margolles: Ja, aber man muss eine Sache beachten, vor allem das Wort, dass die Menschen sterben. Es ist ja nicht so, dass sie eines natürlichen Todes sterben würden, sie sterben nicht an irgendeiner Krankheit, sondern sie werden ermordet. Das, um was es hier geht, ist Mord, täglicher Mord. Also das Wort Mord ist korrekt, es ist nicht einfach, dass die Leute sterben. Ja, und es ist schon so, dass sich das ausweitet. Also die Gewalt breitet sich immer mehr aus. Früher war sie begrenzt auf die nördlichen Gebiete Mexikos, auf die Grenzregionen und Baja California oben an der Grenze zu den USA, und das weitet sich jetzt immer mehr nach Süden aus, bis zum Zentrum des Landes – diese Gegend und diese Bereiche, in der die Gewalt so hochkommt, dass sie alles dominiert.

von Billerbeck: Aber was macht das mit einem Land, wenn es vieltausendfache Morde gibt, von denen Sie ja ganz deutlich sprechen, wie verändert das das Land und seine Menschen?

Margolles: Man sieht das zum Beispiel in Ciudad Juárez, wo es besonders schlimm ist. Da sieht man, dass die Zivilgesellschaft immer bewusster wird von dem, was um sie herum passiert und dass die Leute sich zusammenschließen, Komitees gründen, versuchen, etwas dagegen zu tun, vor allem junge Leute versuchen, gegen dieses Chaos aktiv zu werden. Und dass die Zivilgesellschaft antwortet, das sehe ich, ist ein kleines Licht am Horizont.

von Billerbeck: Ist das eine Minderheit, die sich da diesen Morden entgegenstellt, oder kann man sogar davon sprechen, dass da ein Land traumatisiert ist durch diesen Drogenkrieg und die Opfer?

Margolles: Das Wort Erschrecken ist vielleicht das falsche Wort, aber es ist schon so, dass diese Zustände Angst erzeugen. Ich kann das auch so sagen: Wir sind wirklich auch überrascht, wenn nicht gar überwältigt von der Geschwindigkeit, mit der diese Gewalt vorwärtsdrängt, wie sich diese Gewalt ausbreitet, wie es überhandnimmt, und das schafft in jedem Fall Angst. Aber angesichts dieses zerrissenen sozialen Gewebes sehe ich den einzigen Weg darin, dass die Zivilgesellschaft sich vereint, zusammenschließt und beginnt zuzuhören.

von Billerbeck: Ist auch Ihre Kunst ein Mittel, ein Versuch, gegen diesen Drogenkrieg anzugehen, indem sie dessen Spuren verwenden, dessen Reste, die Reste der Leben der ermordeten Menschen, und der Öffentlichkeit vorführen in Ihren Installationen?

Margolles: Ja, das versuche ich. Also meine Antwort ist eine künstlerische. Ich versuche, darauf mit künstlerischen Mitteln einzugehen, und das versuche ich auch zum Beispiel in der Ausstellung jetzt in Kassel. Für einige Werke und Objekte in der Ausstellung bin ich an der Nordgrenze des Landes entlanggefahren und habe an verschiedenen Orten Erde aufgesammelt, Erde dieser Gegend, und bin auch dort in Leichenschauhäuser gegangen und habe dort Dinge mitgebracht. Ich habe aber auch mit den Leuten dort gesprochen, ich habe ihnen zugehört und gesehen, was dort passiert ist.

Und das sieht man auch in der Absicht eines der Werke, die dort in Kassel sind: Ich möchte den Horror einerseits der Öffentlichkeit zeigen und auch weitergeben, aber ohne jetzt den reinen Schrecken zu vermitteln, sondern zur Reflexion anzuregen. Ich möchte sozusagen eine Mittlerin sein in dem, was ich von meinen Eindrücken weitergeben kann, um die Leute auch zum Nachdenken anzuregen.

von Billerbeck: Wenn Sie so viel Ermordete gesehen haben, sowohl auf den Seziertischen in Mexiko-Stadt als auch auf den Straßen, wenn Sie deren Spuren und Reste eingesammelt haben, was hat das mit Ihnen gemacht, wie hat Sie das verändert?

Margolles: Also vor allem weckt das in mir das Gefühl, die jungen Menschen zu verteidigen, diese junge Generation zu sehen und zu versuchen, ihnen zu helfen, am Leben zu bleiben, mit ihnen zu sprechen. Und wenn man sieht, wie eine ganze Generation sich gegenseitig umbringt – die Mehrheit von ihnen ist noch keine 30 Jahre alt –, dann beschäftigt einen das.

Das beschäftigt mich sehr, dieses Sterben, praktisch dieses Aussterben einer ganzen Generation, was wir dort mitbekommen. Das ist das Ende einer Generation, einer Generation von jungen Leuten, um die wir als Erwachsene uns tatsächlich kümmern müssen, darüber müssen wir uns klar sein. Und das, denke ich, ist auch in meinem Werk zu sehen. Wenn man bedenkt, dass im letzten Jahr allein die Morde an Heranwachsenden um 300 Prozent gestiegen sind, das alarmiert uns. Und dieses Abschlachten muss einfach ein Ende haben.

von Billerbeck: Interessieren Sie auch die Geschichten der Ermordeten, wenn Sie sich darum kümmern, die Lebenden vor dem Tod, vor diesem gewaltsamen Tod zu bewahren?

Margolles: Jetzt geht es mir mehr darum, mit den Menschen, mit denen ich in Ciudad Juárez zusammenarbeite, den Lebenden zuzuhören. Momentan interessiert es mich mehr, was die Lebenden zu erzählen haben, zu sehen, wohin es geht, wohin diese neue Form der Gewalt führt.

von Billerbeck: Die mexikanische Künstlerin Teresa Margolles, ganz herzlichen Dank für das Gespräch, das Mareille Amir übersetzt hat.

Margolles: Gracias!

von Billerbeck: Unter dem Titel "Frontera" sind Teresa Margolles' Arbeiten vom kommenden Freitag an, vom 3. Dezember bis zum 20. Februar im Fridericanum in Kassel zu sehen.