„Dieser Weihnachtsfestkreis markiert den Beginn des Kirchenjahrs“

Thomas Macho im Gespräch mit Anne Françoise Weber |
Dieses Wochenende ist islamisches Neujahrsfest und der Beginn des Kirchenjahrs. Der Kulturhistoriker Thomas Macho erklärt die religiöse Bedeutung der Zeitrechnung und konservative Elemente in der Kalendertradition, denen er mit „wirklich viel Respekt“ begegne.
Anne Françoise Weber: An diesem Wochenende beginnen gleich zwei neue Jahre: Die Muslime begehen am heutigen Samstag das islamische Neujahrsfest, Beginn des Jahres 1433 ihrer Zeitzählung nach der Hidschra, dem Auszug des Propheten Mohammed aus Mekka. Für Christen beginnt am Sonntag mit dem ersten Advent das neue Kirchenjahr.

Beiden Neuanfängen ist gemein, dass sie für nicht religiöse Menschen kaum eine Bedeutung haben. Und doch sind unsere Kalender stark von Religionen geprägt. Die Zeitzählung nach Christi Geburt ist weltweit verbreitet, auch wenn sie mittlerweile öfters ohne den religiösen Zusatz formuliert wird. Und auch die Sieben-Tage-Woche lässt sich schon in der hebräischen Bibel finden. Wie viel bleibt von der göttlichen Zeitrechnung heute?

Einer, der sich ausführlich mit Kalendern befasst hat und weiß, wie viel sie mit Religion zu tun haben, ist Thomas Macho, Professor für Kulturgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ich habe vor der Sendung mit ihm gesprochen und ihn gefragt, warum eigentlich unsere sogenannte christliche Zeitrechnung nicht den Jahresanfang auf den 25. Dezember, also Jesu Geburt gesetzt hat. Und warum die Kirche ihr Jahr dann auch noch vier Wochen früher beginnen lässt, eben am ersten Advent.

Thomas Macho: Ja, eigentlich ist das doch seltsam, aber Amtsjahr und Kirchenjahr sind zu ganz verschiedenen Zeiten entwickelt worden, und die Geschichte der christlichen Religion hat auch sehr viel zu tun damit, dass man Kompromisse gebildet hat mit dem Römischen Reich. Und einer dieser Kompromisse war eben die Übernahme des römischen Neujahrstermins – der war wesentlich älter als der christliche – und die Umstellung auf den 25. Dezember.

Ursprünglich war ja gar nicht mal klar, dass der 25. Dezember als Geburtstag Christi figurieren sollte. Und dann hat man um diesen 25. Dezember herum den Weihnachtsfestkreis gebaut, und dieser Weihnachtsfestkreis markiert den Beginn des Kirchenjahrs – also dann noch mal vier Wochen früher, weil der Advent dann dazugerechnet wurde.

Weber: Das Seltsame am Kirchenjahr ist ja auch, dass das sich wirklich nur im Kreis dreht, da wird ja eigentlich nichts gezählt. Gleichzeitig ist es doch gedacht als so eine Schraubbewegung hin zum Zielpunkt, also der Wiederkehr des Herrn, wie es so schön heißt. Das ist doch alles eine ganz komische Mischung aus Zyklus und Zeitstrahl bei der Jahresrechnung – wie passt das zusammen und hat sich da was verändert im Laufe der Jahrhunderte?

Macho: Zyklen hat man sehr oft erfunden, um sie zählen zu können, und hat dann faktisch durch die gezählten Zyklen auch so etwas wie einen Zeitstrahl wieder erreicht. Es hat sich auch geändert natürlich im Laufe der Jahrhunderte. Aber tatsächlich ist das Kirchenjahr natürlich zyklischer als etwa das, was wir heute als bürgerliches Jahr bezeichnen würden, als Amtsjahr bezeichnen würden, und der zyklische Aspekt steht stärker im Vordergrund.

Wenn man mittelalterliche Mönche gefragt hätte, dann hätten die wahrscheinlich aber wieder – weil die so intensiv damit beschäftigt waren, das Osterfest immer auszurechnen und die Osterzyklen festzulegen – dann hätten die wahrscheinlich diesen Aspekt gar nicht so stark wahrgenommen, weil sie so intensiv darauf konzentriert waren eben, die nächsten 500 Jahre Ostertermine in Tabellen zu vereinheitlichen und aufzählen zu können.

Weber: Das ist ja auch ganz seltsam, dieser Ostertermin, der bewegt sich immer noch so durch das Frühjahr, also nicht ganz unbestimmt, aber doch vom Frühlingsmond abhängend. Wie kommt denn das zustande und wieso hält sich so etwas in unserer Zeit, wo doch alles so durchgetaktet ist?

Macho: Man hat es ja auch mehrfach zu ändern versucht, aber ohne Erfolg. Das gefällt mir auch. Es gibt so konservative Elemente in der Kalendertradition, die erfordern wirklich viel Respekt. Faktisch hängt es zusammen mit den Beschlüssen des Konzils von Nicäa. Das Konzil von Nicäa war im vierten Jahrhundert, 325 nach Christus, und dieses Konzil hat eben sich auch mit Kalender- und Zeitrechnungsfragen intensiv beschäftigt.

Und während man den Römern an vielen Punkten, insbesondere was die Sonne betraf, die Sonnentage und den Sonnentermin für das Weihnachtsfest und so weiter – während man den Römern da in vielen Punkten entgegengekommen ist, hat man die alte jüdische Tradition und damit natürlich auch die Verbindung mit Jerusalem und mit der Ostkirche im Fall des Osterfestes nicht ganz aufgeben wollen.

Und das hieß eben auch, Orientierung nicht nur an den Frühjahrsäquinoktien, nicht nur an einem Sonntag, sondern eben am ersten Vollmond nach den Äquinoktien, also am ersten Frühjahrsvollmond. Und das hat man aufrechterhalten, auch wie gesagt, um diese Verbindung mit dem traditionellen Passahtermin nicht zu verlieren. Und von daher kann man sagen, diese Osterterminfindung ist eine Kompromissbildung zwischen der römischen und der jüdischen Tradition oder den römischen und den jüdischen Wurzeln der christlichen Religion.

Weber: Also Ostern richtet sich zum Teil zumindest nach dem Mond, das tut ja das islamische Jahr ganz und gar. Das sind also wirklich nur Mondmonate, die sich da zusammenfinden, und dadurch bewegt sich das durch unsere Jahreszeiten. Es gibt eben insgesamt kein Sonnenjahr, damit machen sich die Muslime vom Mond abhängig, der ja auch erst erspäht werden muss, damit die Fastenzeit des Ramadan zu Ende geht.

In der hebräischen Bibel haben wir einen Schöpfungsbericht, in dem Gott erst Tag und Nacht macht und später erst Sonne und Mond erschafft – damit sind die Gestirne eigentlich was ganz Unwichtiges. Ist das in diesen Kulturkreisen auch so, dass also das eine Mal die Astronomie ganz wichtig ist und das andere Mal kaum eine Rolle spielt?

Macho: Die Astronomie ist in beiden Kulturkreisen wichtig, glaube ich, und es gehört sozusagen auch zur Tradition der jüdischen Religion. Man darf nicht vergessen, als die Hebräer unter Moses aufbrechen aus Ägypten zu dem berühmten Exodus, verordnet ihnen Moses zunächst mal auch einen reinen Mondkalender, und zwar im Protest und im Widerstand und in der Abgrenzung gegen den ägyptischen Sonnenkalender.

Die Ägypter haben einen Sonnen- beziehungsweise dann auch einen Siriuskalender, aber jedenfalls einen Kalender, der nicht am Mond orientiert ist. Und Moses bricht auf und sagt, jetzt haben wir sozusagen einen Mondkalender, wir orientieren uns am Mond. Tatsächlich ist der komplizierte jüdische Sonnen-Mond-Kalender, der das korreliert miteinander, überhaupt erst im vierten Jahrhundert nach Christus, also nach unserer Zeitrechnung formell so festgehalten und beschlossen worden durch die Kalenderreformen von Hillel, dass er seine heutige gültige Form annehmen konnte: also faktisch auch zuerst ein Mondkalender, auch mit ähnlichen Praktiken.

Die jüdische Tradition kannte auch einen Kalenderrat, der saß am Sanhedrin in Jerusalem, und da musste man den Neumond melden. Und erst, wenn zwei Zeugen unabhängig voneinander den Neumond, also diese berühmte Neulichtsichel gemeldet hatten, konnte der neue Monat ausgerufen werden und solche Sachen.

Man kann sagen, das ist der Vorteil eines solchen Kalenders. Er konzentriert die Aufmerksamkeit der Menschen auf den Kult. Das ist anders, als wenn Sie einen Kalender haben, der auf die agrarischen Vegetationszyklen bezogen ist, da können Sie sich so was nicht leisten, ist ja klar. Wenn Sie ein Erntedankfest anfangen im Frühjahr zu feiern, dann wird es nicht mehr spaßig, aber wenn Sie ein Kultfest über das Jahr wandern lassen, wie das Ende des Monats Ramadan oder so, das macht ja nichts.

Dann können Sie sagen, Sie erreichen damit in jedem Fall eine hohe Aufmerksamkeit für den kultischen Zyklus, für die Bedeutung der Feste, die unabhängig sind von der Natur. Es wird sozusagen eine Betonung auf den kulturellen Charakter des Kalenders gelegt.

Weber: Und es ist aber auch eine Betonung, dass die göttliche Zeit eine andere ist als die menschliche Zeit, und im Christentum haben wir mit der Menschwerdung Gottes ja eigentlich ein Zusammenbringen von göttlicher und menschlicher Zeit. Könnte man das so sagen, dass da auch ein theologischer Unterschied liegt?

Macho: Darin könnte man auch einen theologischen Unterschied legen, wobei es in der Praxis natürlich auch in der Geschichte des Christentums nicht ganz so leicht ging und kompliziert war. Das hat wiederum sehr viel damit zu tun, dass das Christentum am Anfang eben eine apokalyptisch geprägte Religion ist, die eigentlich damit rechnet, dass die Wiederkunft des Herrn, von der wir ja schon gesprochen haben, nicht in sehr ferner Zukunft liegt, sondern möglicherweise schon im Laufe der nächsten oder übernächsten Generation eintreten wird.

Und diese apokalyptisch geprägte Religion muss sich die großen Zeithorizonte ihrer eigenen Geschichte dann auch erst langsam erarbeiten, nachdem dann tausend Jahre vorbei waren und man dann noch gesagt hat, okay, tausend Jahre sind für Gott wie ein Tag und so weiter, und Hilfskonstruktionen aufbauen konnte um das vor dem eigenen Bewusstsein und Glauben zu rechtfertigen, wurde es noch länger.

Dann brauchte man den dritten Jenseitsort, das Fegefeuer neben Himmel und Hölle, einfach weil so viel Zeit zu verwalten war, und natürlich gab es ja auch diesen Aspekt der Frage nach der Ewigkeit und der Frage nach der Zeitlosigkeit, der in der Theologie aufgetaucht ist und der eben diese Frage nach der Differenz zwischen irdischer und himmlischer Zeit wieder starkgemacht hat, weshalb Augustinus dann sagte, Ewigkeit ist eben die Zeit Gottes und als die Zeit Gottes für uns nicht einsehbar. Damit meinte er, man soll nicht zu viel Rechenaufmerksamkeit auf die Berechnung des Apokalypsemoments verschwenden.

Weber: Man hat dann große Aufmerksamkeit darauf verwendet, zu sehen, ob denn diese Jahresrechnung überhaupt noch mit dem Sonnenjahr übereinstimmt, und dann eben festgestellt, dass da eine Verschiebung eingetreten ist, deswegen die große gregorianische Kalenderreform 1582 – das ging ja wirklich von der Kirche aus, von einem Papst durchgesetzt ...

Macho: Genau.

Weber: ... und interessanterweise eben nicht überall durchgesetzt. Also es gab protestantische Teile Deutschlands, in denen das erst viel, viel später akzeptiert wurde. War das der Gedanke, man könnte jetzt nicht einfach zehn Tage von Gottes Zeit unterschlagen, oder war das der Ausdruck, bei uns Protestanten ticken die Uhren anders, wie es so schön heißt?

Macho: Also jedenfalls der Gedanke, dass man zehn Tage wegnimmt, war unheimlich, und das wäre es ja auch heute. Also man unterschätzt die gregorianische Kalenderreform immer etwas, weil man sich ja vorstellen muss, alltagsweltlich hieß das, man sprang vom 5. auf den 15. Oktober. Das würden die Menschen heute auch ein bisschen übelnehmen oder würden die Menschen, die in diesem Zeitraum Geburtstag haben, fragen, ob man ihren Geburtstag dann noch zählt in diesem Jahr oder ob sie dann im nächsten Jahr sozusagen noch immer 28 oder was weiß ich 35 Jahre alt sind und so weiter.

Es gab in der Tat diese Vorwürfe, und es gab die Polemik, dass der Papst zehn Tage später als der Rest der Menschheit vor dem Jüngsten Gericht erscheinen wird müssen und so ähnliche Geschichten. Faktisch war es natürlich so, dass das unvernünftige Polemiken und Proteste waren, weshalb große Protestanten wie Kepler oder Tycho de Brahe auch auf den Regensburger Reichstag gefahren sind, um den Menschen zu erklären, dass diese Reform an sich schon vernünftig ist.

Aber es hat nichts genützt, und deshalb ist in manchen protestantischen Ländern eben der gregorianische Kalender auch erst sehr, sehr spät eingeführt worden – am spätesten allerdings, wenn ich es recht sehe, in Griechenland, da hat es bis 1923 gedauert.

Weber: Das mit dieser Zeitrechnung beschäftigt uns ja bis in heutigen Zeiten, dass es da immer wieder Versuche gibt, eine neue Zeitrechnung einzuführen, um zu zeigen, es beginnt was ganz Neues. Also ein Beispiel ist eben der libysche Revolutionsführer Gaddafi, der hat im Jahr 1979, das war im Jahr 1400 der Hidschra, also auch so ein Jahrhundertwechsel, hat er plötzlich gesagt, ja, wir fangen jetzt die islamische Zeitrechnung mit dem Tod Mohammeds 632 an, also zehn Jahre später als sonst üblich. Während der Französischen Revolution hat man das ja auch schon versucht, einen ganz neuen Kalender einzuführen. Warum ist das so wichtig, dass man sagt, wir haben jetzt ein neues Jahr null?

Macho: Ja, einerseits wird damit natürlich der eigene Anfang und die Bedeutung der neuen Zeit, die mit einem selbst anbricht, gewürdigt und unterstrichen, andererseits hoffte man natürlich auch, mit Kalenderreformen den Kalender etwas praktischer zu machen. Faktisch hat das nie funktioniert. Es war – um ein schlichtes Argument zu nennen – eben immer so, dass man gesagt hat, okay, unsere ganze Welt basiert auf dezimalen Maß- und Rechensystemen, wieso gerade der Kalender nicht, wieso ist der hexagesimal, das heißt an einer Zwölfer- oder 60er-Ordnung orientiert.

Faktisch haben diese ganzen Kalenderreformen jeweils kaum mehr als ein Jahrzehnt, auch die sowjetische Kalenderreform, die es gab in den 20er-Jahren, kaum mehr als ein Jahrzehnt überlebt, und es könnte schon auch sein, dass das was damit zu tun hat, dass der Alltag der Zeitrechnung, auch die Uhren mit ihren zwölf Stunden und so weiter, so harmonisch auch auf unsere Erfahrung und auf unsere sozusagen „Rechenkünste“, unter Anführungszeichen, bezogen bleibt und bezogen ist, dass die Umstellung aufs Dezimalsystem nicht funktionieren kann.

Weber: Also können wir unsere Kalender und Uhren wohl doch noch ein paar Jahrhunderte nutzen. Vielen Dank, Thomas Macho, Professor für Kulturgeschichte an der Humboldt-Universität Berlin.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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