"Dieser Charme, der hat sich bis heute nicht verbraucht"

Moderation: Frank Meyer |
Für eine "originäre Leistung in der deutschen Filmgeschichte" hält Knut Elstermann die Kinderfilme der DEFA. Im Interview spricht der Publizist über junge Darsteller, unangepasste Figuren - und das Kind im Sozialismus.
Frank Meyer: Axel Sommerfeld, 1983 war er Hauptdarsteller in dem Film "Insel der Schwäne" von Herrmann Zschoche und damit eins der Filmkinder in der DDR. 14 dieser Kinder hat der Publizist Knut Elstermann porträtiert in seinem Buch "Früher war ich Filmkind. Die DEFA und ihre jüngsten Darsteller". Und jetzt ist er hier bei uns, herzlich willkommen im Deutschlandradio Kultur!

Knut Elstermann: Hallo, vielen Dank für die Einladung!

Meyer: Sie steigen ein in Ihr Buch mit einem ganz frühen DEFA-Film aus dem Jahr 1946 und mit einem heute sehr bekannten Schauspieler, Charles Brauer. Als Tatort-Kommissar Brockmüller ist er ja eins der bekanntesten Fernsehgesichter, und das bundesweit. Wie schaut Charles Brauer denn zurück auf seine Anfänge als DEFA-Filmkind?

Elstermann: Also erst mal sehr berührt, wenn er davon spricht. Ich habe ihn kennengelernt bei einer Vorführung dieses Films irgendwo in Berlin von 1946, wir saßen also, da war auch seine Frau da und Kinder von ihm. Also man merkt, das ist ein Film, der ist ihm unheimlich wichtig. Und in der Tat zeigt dieses Werk ja auch, dass er ein großes Talent ist, also wie er diesen kleinen Jungen spielt, der in dieser Trümmerlandschaft Berlins auch noch Verantwortung übernimmt für seinen eigenen Vater, das hat eine große Kraft und einen großen Charme, und dazu kommen noch diese ausdrucksstarken Augen, man erkennt ja den Charles Brauer da irgendwie schon. Also ich bin persönlich übrigens auch sehr berührt. Er spielt in Berlin am Schlosspark Theater zurzeit Boulevardtheater, da bin ich hingegangen und dachte mir, da steht nun dieser 76-Jährige, der als Elfjähriger wiederum in dieser Stadt seine Karriere begann, da ist schon ein schöner Kreis, der sich geschlossen hat.

Meyer: Und ist das für ihn auch wichtig heute, dass er mal als Filmkind angefangen hat?

Elstermann: Ja unbedingt. Also er weiß, damals wurde wirklich die Weiche für sein Leben gestellt, das ist eine große Ausnahme. Die meisten der Filmkinder haben dann ganz andere Berufe ergriffen, aber für ihn ging es dann auch gleich weiter. Also es gab einen Zweijahresvertrag, ganz ungewöhnlich, später hat man so was nie wieder gemacht. Der hat gleich kleinere Rollen gespielt in den "Buntkarierten" zum Beispiel, hat auf der Bühne gestanden, Theater gespielt, es ging dann sofort für ihn los. Insofern ist dieser Film für ihn tatsächlich so etwas wie der Einstieg gewesen in ein Leben, das dann vom Schauspiel geprägt war.

Meyer: Wenn man dieses Buch so durchgeht, dann merkt man aber auch, dass ein DEFA-Kinderfilm Ihnen ganz besonders am Herzen liegt und offenbar Ihre Kindheit stark geprägt hat, nämlich "Der kleine Muck", der Märchenfilm, und wiederum dessen Hauptdarsteller Thomas Schmidt. Was hat Ihnen denn dieser Film in Ihrer Kindheit bedeutet?

Elstermann: Ich denke mal, so wie vielen meiner Generation war das überhaupt das Kinoerlebnis. Es gab in der DDR nicht dieses Überangebot an Filmen wie heute, wo man jede Woche irgendwas Neues sehen kann, sondern es gab tatsächlich immer wieder diesen Film, der wurde ständig wiederholt. Und ich denke mir, wenn man irgendwann mal aufhört, nur darüber nachzudenken, was passiert da eigentlich – das weiß man irgendwann –, dann beobachtet man sehr genau. Das heißt also, ich habe vielleicht sogar mit diesem Film Filmbetrachten gelernt, zu schauen, wie ist das geschnitten, ist das aufgebaut, was gibt es da für Tricks zum Beispiel. Und dazu kommt natürlich dieser Zauber des Orients, diese fantastische, märchenhafte Welt. Also meine Vorstellung vom Nahen Osten war immer geprägt eigentlich von diesem Film, und man ist ja dann fast enttäuscht, wenn man mal selbst hinkommt. Aber so schön ist keine Realität wie das Kino.

Meyer: An dem Film ist ja interessant, dass er zu einem Welterfolg wurde, mit elf Millionen Zuschauern überhaupt der erfolgreichste deutsche Kinderfilm. Was meinen Sie, warum wurde dieser Film so erfolgreich?

Elstermann: Ich denke, dass er eben so wahnsinnig viel bietet erst mal an Schauwerten. Das ist 1953 auch sensationell gewesen übrigens, dieses Farbmaterial, der Aufwand ist etwas, was sonst nur Hollywood macht. Man hat in Babelsberg diese ganze orientalische Stadt nachgebaut, die gab es ja wirklich. Und natürlich kommt dieser Kinderdarsteller dazu. Man darf nicht vergessen, in den 50er-Jahren, wenn man Filme sieht mit so Kindern, so mit gescheiteltem Haar, Fistelstimme, unnatürlich … Dieser Junge, dieser Thomas Schmidt, der hat das als einen Abenteuerspielplatz begriffen, dieses Studio, so war es auch. Und das merkt man dem an, er ist so frisch, er ist so unverstört, so natürlich, und dieser Charme, der hat sich bis heute nicht verbraucht.

Meyer: Thomas Schmidt ist später Arzt geworden, Mediziner, und Sie haben schon gesagt, Charles Brauer ist eigentlich die Ausnahme, weil er Schauspieler geworden ist, alle anderen sind in ganz andere Richtungen gegangen. Und Sie schreiben auch in Ihrem Buch, die DDR wollte eigentlich gar keine Kinderstars aufbauen. Warum das eigentlich nicht?

Elstermann: Das ist völlig richtig, man hat also ein ungeschriebenes Gesetz gehabt, also das wurde nie irgendwie mal festgelegt, aber jeder wusste das im Studio, dass man es nicht gern sieht, wenn Kinder zweimal in Hauptrollen besetzt wurde. Kleine Nebenrollen waren schon möglich und es gab auch Ausnahmen von dieser Regel, im Grunde aber wollte man die Kinder schützen. Und ich habe mit vielen Leuten gesprochen, die damals Kinderfilme gemacht haben, es heute vielleicht auch noch machen, die immer sagen, es war auch besser so. Es ist so eine herausragende Situation, wir haben es gerade gehört von dem Axel Sommerfeld, man steht im Mittelpunkt, jeder kümmert sich um dich, du bekommst auch Geld, gar nicht mal so wenig, bist plötzlich berühmt, schreibst Autogramme. Das ist alles für ein Kind nicht unbedingt nur eine gesunde Erfahrung. Und dann schnell wieder zurückzukehren in die Klasse, mit den normalen Freunden auf der Straße wieder zu spielen, ist unheimlich wichtig für die seelische Gesundheit. Also diese Regel, die ist glaube ich schon ganz vernünftig gewesen, hat die Kinder eher geschützt.

Meyer: Bei den Kinderfilmen in der DDR, ich musste bei Ihrem Buch auch oft denken an die ja auch große Tradition der Kindermärchenfilme, insbesondere aus der Sowjetunion, aus der CSSR. Welchen Stand hatte eigentlich der Kinderfilm innerhalb dieses Großunternehmens DEFA in der DDR?

Elstermann: Genau, und dabei ist mir übrigens ganz wichtig immer zu sagen, es geht hier wirklich um Kinderfilme mit Kinderdarstellern. Märchen kommen ja nur zwei vor in dem Buch, weil da spielen in der Regel ja gar keine Kinder mit. Es war eine ganz wichtige Plankennziffer, die DEFA war ein sozialistischer Planbetrieb mit etwa so 16 Filmen im Jahr, und vier bis fünf davon mussten Kinderfilme sein, das war vorgeschrieben.

Meyer: Fast ein Drittel, also eine Menge.

Elstermann: Genau, das ist eine ganze Menge auch für so eine doch vergleichsweise geringe Jahresproduktion. Das gab dann den Filmemachern absolute Planungssicherheit und es gab ja nicht wenige hervorragende Regisseure wie Rolf Losansky, Helmut Dziuba, Hans Kratzert, die sich tatsächlich nur auf Kinderfilm konzentrieren konnten, weil sie wussten, wir machen unsere Filme.

Meyer: Wir waren ja vorhin mit dem Filmkind Axel Sommerfeld bei dem Film "Insel der Schwäne" von Herrmann Zschoche, ein Film, der ja durchaus auch so die schwierigen Seiten des sozialistischen Alltags zeigt, dass da nicht alles glatt läuft. Gab es da nicht so einen latent kritischen Blick auf DDR-Alltag öfter im DDR-Kinderfilm?

Elstermann: Also ich würde sagen, er hatte so eine Doppelfunktion. Einerseits war, ich schon sagte, ganz wichtig eben auch zu zeigen, welche Stellung hat das Kind im Sozialismus, wir kümmern uns um Kinder, wir schaffen eine eigene Filmkultur, und das hat man ja tatsächlich getan. Auf der anderen Seite, das haben ja alle Filmemacher gesagt, schaute man trotzdem nicht ganz so genau hin. Es war nicht ganz so wichtig, was da im Kinderfilm verhandelt wurde …

Meyer: … man ist jetzt die politische Führung?

Elstermann: Die politische Führung natürlich, auch die Studioleitung hatte da einen etwas großzügigeren Blick, und das merkt man den Filmen an. "Insel der Schwäne" haben Sie genannt oder nehmen Sie "Sabine Kleist", also ein ganz berührender Film über ein kleines Mädchen aus dem Waisenheim, was da abhaut, um endlich wieder neu anzudocken, Bindung zu finden, und auf eine DDR stößt, wo die Menschen noch sehr mit sich beschäftigt sind, mit ihren persönlichen Problemen und nie genau hinsehen, was will dieses Kind. Und solche Beispiele würde man mehrere finden, also ich habe sogar beim Wiedersehen der Filme das Gefühl gehabt, die erzählen vielleicht manchmal sogar mehr und ehrlicher von DDR als mancher dieser berühmten großen DEFA-Gegenwartsfilme.

Meyer: Aber haben sie nicht auch versucht, so ein sozialistisches Kinderbild zu vermitteln, also zum Beispiel so was Anarchisches wie "Pippi Langstrumpf" auf sozialistisch hätte man sich eher nicht vorstellen können, oder?

Elstermann: Ist ein sehr gutes Beispiel, man findet da durchaus einige der Filme, nehmen wir "Das Schulgespenst", also die Heldin da hat schon was sehr Anarchistisches, oder den Film "Gritta von Rattenzuhausbeiuns", wo ja Nadja Klier die Hauptrolle spielt, das ist eine adelige Pippi Langstrumpf, in so einem völlig heruntergekommenen Schluss macht sie, was sie will, und sagt zum Beispiel, wir lesen keine Zeitung, wir hören nur, was die Spatzen vom Dach pfeifen. Doch sehr schöner Satz, den glaube ich jeder verstand. Es war möglich und es gibt natürlich auch eine Entwicklung im DEFA-Kinderfilm. Sie werden solche Beispiele also von eher unbändigen, mutigen Kindern sicherlich eher Ende der 70er-, Anfang der 80er-Jahre finden, die 60er sind da noch ganz anders. Aber man findet da schon einige sehr unangepasste Gestalten.

Meyer: Wenn Sie das mal vergleichen, die Kinderdarsteller von heute und die von damals, mit denen Sie jetzt für Ihr Buch gesprochen haben: Wie nah sind die sich oder wie unterscheiden die sich auch?

Elstermann: Das sind wirklich Welten, die dazwischen liegen. Also es gab in der DDR ja keine Agenturen zum Beispiel für Kinder, es gab niemand, der mit ihnen kontinuierlich gearbeitet hat, sondern man wollte Kinder, die genau für diese Rolle passten. Und mir hat sogar ein Regisseur, Rolf Losansky, mal gesagt bei den Recherchen zum Buch, ich habe Kindern misstraut, die gut spielen können beim Casting, ich wusste, das halten die vielleicht gar nicht durch oder sie werden wir irgendwas anbieten, was ich will, was aber gar nichts mit ihrer Persönlichkeit zu tun hat.

Die Stärke dieser DEFA-Kinderfilme besteht darin, dass sie etwas in den Kindern abgerufen haben, was wirklich mit ihnen zu tun hatte, was man nutzbar gemacht hat für diese Filme. Wahrscheinlich ist der DEFA-Kinderfilm mit diesem starken Gegenwartsbezug eine originäre Leistung in der deutschen Filmgeschichte. Das hat es vorher nicht gegeben in der Form, das gibt es auch heute nicht mehr. Und deshalb, um Ihre Frage hier zu beantworten, werden Sie heute auch gar nicht mehr auf Kinder treffen, die in dieser Weise gefordert wurden, sondern Sie treffen auf sehr routiniert spielende Kinder, deren Eltern natürlich auch einen gewissen Ehrgeiz mitgebracht haben, um die Kinder dahinzubringen, wo sie dann vielleicht sind.

Meyer: Knut Elstermann, er hat das Buch herausgebracht, "Früher war ich Filmkind. Die DEFA und ihre jüngsten Darsteller", erschienen im Verlag Das neue Berlin. Ein Buch mit 220 Seiten, vielen Abbildungen für 19,95 Euro. Knut Elstermann, vielen Dank für das Gespräch!

Elstermann: Ich danke!

Mehr zum Thema bei dradio.de:

"Gruppendynamik wie im Ferienlager"