"Diese Menschen hatten ein sehr begrenztes Bewusstsein"

Moderation: Joachim Scholl · 10.09.2013
In seinem neuen Buch stellt der Historiker Christopher Clark nicht die Frage danach, warum der erste Weltkrieg ausbrach, sondern welche Entscheidungen zu diesem Krieg geführt haben. So bekomme man "ein ganz anderes Bild", sagt er. Um einen Freispruch für die deutsche Außenpolitik von damals gehe es aber nicht.
Joachim Scholl: Man hat ihn die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts genannt, den Ersten Weltkrieg. Im nächsten Sommer ist der Beginn genau 100 Jahre her und bei den Filmanalysen und Betrachtungen, die wir dann hören und lesen, wird vermutlich dieses Buch eine gewichtige Rolle spielen: "Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog", eine knapp 900-Seiten-Studie des Historikers Christopher Clark. Er lehrt in Cambridge, ist der weltweit führende Spezialist für preußische Geschichte, auch der wilhelminischen Epoche. Christopher Clark, willkommen im Deutschlandradio Kultur!

Christopher Clark: Danke schön!

Scholl: Das Attentat, der Mord am österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und an seiner Ehefrau fand am 28. Juni 1914 statt und nur 37 Tage später, so schreiben Sie in Ihrem Buch gleich zu Beginn, war Europa im Krieg. Für uns ist das heute eine Tatsache, als ob kein Weg an diesem Krieg hätte vorbeiführen können. Lief alles 1914 wirklich auf einen Krieg zu, musste dieser Krieg ausbrechen? Man denkt ja bei dieser Geschwindigkeit, es lag in der Luft!

Clark: Nein, dieser Krieg musste nicht ausbrechen, überhaupt nicht. Man hat mit Recht in einer wichtigen neueren Studie von einem unwahrscheinlichen Krieg gesprochen. In mancher Hinsicht wurde dieser Krieg sogar in den letzten Jahren und Monaten vor seinem Ausbruch unwahrscheinlicher.

Wenn man zum Beispiel guckt im Frühling 1914, da sieht man, die Briten waren dabei, spielten mit dem Gedanken, das Abkommen mit Russland fallen zu lassen, eine Verständigung mit Deutschland zu suchen. Sie wollen sogar den Privatsekretär des Außenministers Edward Grey nach Berlin schicken, um Sondierungen zu machen in Berlin, die Beziehungen zwischen Serbien und Österreich verbessern sich. Also, zu diesem Krieg hätte es nicht kommen müssen.

Scholl: Sie nennen diese 37 Tage das komplexeste historische Ereignis der Moderne, vielleicht sogar aller Zeiten. Und im Titel Ihres Buchs steht schon Ihr entscheidender Ansatz, auf das Ereignis zu blicken, im Wörtchen "wie Europa in den Krieg zog". Sie fragen absichtlich nicht nach dem Warum. Was ist hier auch der methodische Unterschied?

Clark: Ja, wenn man die Frage nach dem Warum stellt, dann kommt man sehr schnell auf kategorische Erklärungen, abstrakte Begriffe, Nationalismus, Imperialismus, Flottenwettbewerb, Chauvinismus, Ehrenbegriffe der verschiedenen Nationen und so weiter und so fort. Und da entsteht ein verzerrendes Bild, eine Art optische Illusion. Der Kausaldruck wächst und am Ende gibt es keinen Bewegungsraum mehr für die Individuen, die dann die Entscheidungen zu finden haben.

Ich wollte das ganz anders darstellen, ich wollte das auch ganz anders verstehen und analysieren, ich wollte nach den Entscheidungen und Handlungen fragen, die diesen Krieg herbeigeführt haben oder die diesen Krieg wahrscheinlicher gemacht haben. Und wenn man das tut, dann bekommt man ein ganz anderes Bild.

"Natürlich war die deutsche Außenpolitik eine verfehlte"
Scholl: Jenseits der Wissenschaft hat sich in der öffentlichen Meinung über die letzten 50 Jahre so das Bild etabliert, dass ein säbelrasselndes Deutschland mit einem impertinenten Kaiser Wilhelm II vorne dran der kriegstreibende Hauptaggressor sei. Sie, Christopher Clark, sehen die Deutschen gar nicht so sehr im Vordergrund, sondern alle bunt gemischt. Wollen Sie den Ruf der Deutschen in der Geschichtswelt ein wenig aufpolieren oder ist das bisherige Geschichtsbild einfach zu einseitig?

Clark: Es geht eigentlich um Betonung und Einseitigkeit, würde ich sagen. Eines will das Buch überhaupt nicht, und das ist, der deutschen Außenpolitik von damals einen Freispruch erklären. Ich will nicht sagen, die Deutschen waren es doch nicht, ihr könnt alle aufatmen. Das war die Position der Zwischenkriegszeit, wo man gegen den Versailler, die Schmach des Versailler Vertrages argumentiert hat, die Deutschen seien wie Unschuldslämmer, wie unschuldige Lämmer von den Nachbarstaaten überfallen worden.

Das ist überhaupt nicht mein Argument, sondern natürlich war die deutsche Außenpolitik eine verfehlte. Da gab es Aggressionen, Paranoia und so weiter und so fort. Und die Thesen, die von Fritz Fischer geprägt wurden, sind nicht falsch, er hat seine Quellen nicht erfunden, aber …

Scholl: In den 60er-Jahren eine berühmte Kontroverse, Fritz Fischer, der sozusagen die Kriegsschuldfrage eindeutig beantwortet hat und gesagt hat, die Deutschen waren es!

Clark: Genau, und es geht mir nicht darum, Fritz Fischer in dem Sinne zu widerlegen, dass ich alles, was er für richtig hielt, für falsch halten sollte, überhaupt nicht. Sondern es geht darum, die Wege der deutschen Außenpolitik in ein gesamteuropäisches Bild einzubetten. Wenn man das tut, dann sieht man: Aggression, Paranoia, ein leichtsinniges Spiel mit dem Risiko gibt es auf allen, auf anderen Seiten, nicht nur in Berlin.

Scholl: Ihrer These zufolge, Herr Clark, ist die Situation auf dem Balkan ein ganz wesentlicher, bislang auch unterschätzter Faktor. Sie beginnen auch Ihr Buch mit einer atemberaubenden Erzählung aus der serbischen Geschichte um die Jahrhundertwende. Ist Serbien ein besonders schwieriger Fall in der europäischen Geschichte, auch in dieser Gemengelage, steckt da vielleicht doch mehr Zündstoff, als wir bisher wahrgenommen haben?

Clark: Ja, einerseits wollte ich und will ich weder die serbischen Staatsmänner noch Serbien selbst dämonisieren oder zum schwarzen Peter machen, zumindest zum schwarzen Peter des damaligen Europas, und auf jeden Fall nicht Serbien sozusagen die Schuld für den Ausbruch des Weltkrieges in die Schuhe schieben, überhaupt nicht. Aber Serbien stand in einer ganz besonderen Zwangslage. Das war ein Land, in dem die nationale Identität aufs Engste mit einem bewaffneten Kampf verbunden war, und Serbien ist da nicht einmalig.

Die anderen Balkanstaaten hatten eine ähnliche Laufbahn und Irland und Polen und so weiter, es gibt andere Fälle dieser Art. Und die Serben waren natürlich nicht die einzigen Nationalisten in Europa, die sozusagen durch Gebietserweiterung ihr Volkstum sozusagen vereinigen, unter einen Hut, unter ein Dach bringen wollten. Aber in dem komplexen Gebiet des Balkans, an dieser geopolitischen Schnittstelle der balkanischen Halbinsel, war natürlich viel Zündstoff. Das war ein Faktor der Instabilität. Und ich wollte halt Serbien nicht mehr als passiven Zuschauer darstellen, sondern als Akteur.

Scholl: Das heißt also nicht nur, das Attentat findet eben in Sarajevo statt und alles andere passiert dann in Moskau, in Wien, in Berlin und in London, sondern das war auch ein aktiver Punkt, ein aktiver Faktor, der eine Rolle spielte?

Clark: Genau, und es ist auch interessant, in einer neue Untersuchung von zwei sehr guten amerikanischen Kollegen schreiben sie, das Attentat zu Sarajevo hat eigentlich nichts verursacht, sondern die Reaktionen auf Sarajevo haben etwas verursacht. Aber das ist natürlich ein Unsinn, welches Ereignis löst an sich ein Ergebnis aus? Das Attentat war sehr wichtig, es war wie der Anschlag auf die zwei Türme in New York, es hat die Chemie der damaligen Politik grundsätzlich verändert.

"Sie handelten nicht anders als die Staatsmänner von heute"
Scholl: Weil Sie es gerade ansprechen, die Parallele zur heutigen Zeit: Sie ziehen auch eine interessante Parallele zu unserer Zeit, nämlich zu den Vorgängen der Finanzkrise seit 2008. Sie schreiben, die Akteure von 1914 sind unsere Zeitgenossen in diesem Zusammenhang. Eine starke Formulierung! Und das heißt also, man war, man ist in den Fängen einer solch komplexen Maschinerie, die kaum noch beherrschbar ist, und dann passiert es eben?

Clark: Ja. Also, das mit diesen Menschen als Zeitgenossen, das habe ich betonen wollen, weil ich selbst, als ich diesem Thema zum ersten Mal begegnet bin als Schüler, in Sydney, als Teenager in den 70er-Jahren, da kamen mir die Menschen, die Akteure in dieser Geschichte wie ferne, vergangene Gestalten in einer fernen Vergangenheit vor, so verschlossen.

Und indem ich mich dann dem Thema angenähert habe, wurde es mir klar, dass sie genauso gedacht und räsoniert haben wie wir, sie handelten nicht anders, grundsätzlich nicht anders als die Staatsmänner von heute. Und die Probleme, denen sie begegnet sind oder von denen sie sich herausgefordert fühlten, sind nicht alle weg, aus der Welt verbannt. Und da habe ich doch einige Parallelen gesehen mit der Gegenwart.

Scholl: Der Titel Ihres Buches nimmt einen deutschen Romantitel auf. "Die Schlafwandler"" heißt eine Trilogie des österreichischen Schriftstellers Hermann Broch, die ab 1930 erschien: eine Analyse des gesellschaftlichen Werteverfalls. Da hat man analysiert zwischen 1888 und 1918, also genau die Periode, die Sie auch im Blick haben. Und das Schlafwandeln ist in diesem Roman so das Motiv eines blinden Handelns, das sich ohne Bewusstsein vollzieht. Was sind, Christopher Clark, Ihre Schlafwandler in diesem Prozess des Ersten Weltkriegs?

Clark: Die Metapher hat natürlich ihre Grenzen. Schlafwandler habe ich nicht gemeint, und Broch hat diesen Begriff auch nicht so genutzt, damit habe ich nicht gemeint, die Menschen wären sozusagen in einem Zustand des Unbewusstseins, dass sie deswegen nicht zur Verantwortung gezogen werden können für ihr Handeln. Ganz im Gegenteil!

Aber das Interessante an Schlafwandlern - metaphorisch gedacht - ist, dass sie fähig sind, Absichten zu fassen und Handlungen durchzuführen, bloß sie wissen um den äußeren Kontext der Handlungen nicht. Sie wissen auch um die Folgen, die Ergebnisse ihrer Handlung nicht. Und da, glaube ich, funktioniert die Metapher. Denn diese Menschen gingen rational vor, sie wählten zwischen Optionen, aber sie sahen nicht die weiteren Konsequenzen. Sie hatten also ein sehr bedingtes, ein sehr begrenztes Bewusstsein.

Scholl: "Die Schlafwandler. Wie Europa in den Krieg zog", so heißt das Buch von Christopher Clark. Es ist jetzt auf Deutsch erschienen, seit gestern in den Buchhandlungen, veröffentlicht von der Deutschen Verlags-Anstalt mit 895 Seiten zum Preis von 39,99 Euro. Und wer mehr und ausführlicher von Christopher Clark hören möchte, der sei schon jetzt auf unser Programm während der Frankfurter Buchmesse im Oktober verwiesen, dort wird Christopher Clark zu Gast auf dem Blauen Sofa sein bei den Gesprächen, die wir im Deutschlandradio Kultur mit dem ZDF und Bertelsmann bestreiten. Dann also länger, für heute herzlichen Dank Ihnen, Christopher Clark!

Clark: Ich danke Ihnen!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema