"Diese Jugendlichen brauchen wieder eine Perspektive"
Der Gewaltforscher Jürgen Mansel sieht in der aktuellen Serie von Brandanschlägen auf die Deutsche Bahn keine neue Form des Linksextremismus. Vielmehr sei die Hoffnungslosigkeit der jugendlichen Täter ein zentrales Motiv. Die Täter kämen aus einer Gruppe, die kaum Chancen hat, im Erwerbsleben Fuß zu fassen.
Jan-Christoph Kitzler: Die Brandanschläge auf Bahnstrecken in Berlin und Umgebung haben zu einer neuen Debatte geführt über die innere Sicherheit in Deutschland. Verkehrsminister Peter Ramsauer von der CSU sieht eine neue Dimension des Terrorismus und der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, sprach von einem neuen beginnenden Linksterrorismus.
Vor allem Politiker der SPD haben in diesen Tagen aber im Gegensatz dazu davor gewarnt, das Thema zu sehr aufzubauschen. Zwar sind bei den Anschlägen bislang keine Menschen zu Schaden gekommen – das war offenbar auch nicht das Ziel der Täter -, aber diese Taten, sie bleiben Gewaltakte. Und wie auch immer die Debatte darüber ausgeht, wir möchten heute versuchen zu verstehen: Was treibt Menschen eigentlich dazu, nicht mehr auf Argumente zu setzen, sondern auf Zerstörung, und vor allem wie passiert es, dass sich eine Gruppe auf einmal in Gewalt verrennt?
Darüber spreche ich mit Jürgen Mansel, Professor am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Uni Bielefeld. Schönen guten Morgen!
Jürgen Mansel: Schönen guten Morgen, Herr Kitzler.
Kitzler: Die Gewalt in unserer Gesellschaft nimmt zu, das belegen ja die Kriminalstatistiken, und Gewalt entsteht oft nicht dann, wenn Menschen allein sind, sondern in Gruppen. Warum ist das so?
Mansel: Also ob Gewalt zunimmt, denke ich, ist zunächst erst einmal eine andere Frage. Die polizeilich registrierte Gewalt nimmt zu. In Dunkelfeldforschungen kommen wir da zu ganz anderen Befunden. Also wir gehen davon aus, dass sich diese Jugendlichen in eine gewisse Protestbewegung begeben. Die Protesthaltung wächst im Grunde genommen aus ihrer Perspektivlosigkeit, aus ihrer Hoffnungslosigkeit, die dadurch entsteht, dass die Jugendlichen für sich in dieser Gesellschaft keine Zukunft sehen.
Sie haben also nicht das Gefühl, dass sie gestaltend auf ihr Leben einwirken können, um sich gegebenenfalls in die Gesellschaft zu integrieren und einen Platz auch im Erwerbssystem zu erhalten, sondern sie gehen davon aus, dass sie praktisch keine Chance haben, im Erwerbsleben irgendwann Fuß zu fassen, und von daher entsteht so eine Protesthaltung gegen diese Gesellschaft, die sie in einer gewissen Art und Weise ausgrenzt, zu Personen macht, die eben in dieser Gesellschaft keinen Platz finden können.
Kitzler: Mich interessiert, wie das passiert in einer Gruppe, wenn aus diesem Frust, den Sie beschrieben haben, dann Gewalt wird. Wie funktioniert das? Verstärkt die Gruppe diesen Frust noch?
Mansel: Da die Jugendlichen gemeinsam diese Erfahrung machen, also ich bin nicht der einzige, der unter dieser Perspektivlosigkeit leidet, der keinen Job hat, sondern meine Freunde, die Gruppe, mit der ich zusammen bin, hat dieselben Erfahrungen, - ja, und dann kann natürlich das in der Gruppe sehr viel schneller eskalieren, weil dann ist einer da, der es vormacht, und die anderen machen es nach.
Kitzler: Der einzelne Mensch hat normalerweise seine vielleicht gewalttätigen Neigungen unter Kontrolle, kann sich vielleicht irgendwie austoben. Anders ist das in der Gruppe schwerer?
Mansel: In der Gruppe fällt das in dem Sinne leichter, weil man dann in der Regel mit Gleichgesinnten zusammen ist und man versucht dann, durch solche Handlungen in einer gewissen Art und Weise bei diesen Gleichgesinnten Anerkennung zu erhalten. Und in dem Sinne, wie dann die Personen in der Gruppe entsprechend handeln, also ähnlich handeln, kann sich das Verhalten gegenseitig der Jugendlichen bekräftigen.
Kitzler: Bei diesen Berliner Anschlägen ist ja offenbar eine eher kleine Gruppe verantwortlich. Die hat auch politische Ziele formuliert, die sind aber eher wage. Ist Gewalt normalerweise in solchen Gruppen eher ein Selbstzweck, oder geht es doch darum, wirkliche Ziele zu erreichen?
Mansel: Das mag bei den Jugendlichen sehr stark unterschiedlich sein. Sie sind sich möglicherweise ihrer aussichtslosen Situation gar nicht so sehr bewusst, sondern das ist mehr so ein dumpfes Gefühl, was da vorherrscht, und sie merken, meine Freunde, die haben eben keine Chancen. Das ist nun aber nicht bewusst dann herbeigezielt, sondern das entsteht im Grunde genommen aus der Situation heraus, wenn man eben merkt, ich habe keine Perspektive, und Gewalt ist dann eine Reaktionsform, in der man eben versucht, eben genau diesen Einfluss herzustellen, denn durch Gewalt wird etwas bewegt, man bekommt Aufmerksamkeit geschenkt in der Öffentlichkeit, man sieht, dass man in einer Art und Weise noch da ist und dass sich die Gesellschaft mit den Jugendlichen dann auch auseinandersetzt.
Kitzler: Sie haben am Anfang gesagt, die Statistik, die Kriminalstatistik, die müsste man anzweifeln, ob das wirklich so ist, dass die Gewalt wächst. Was ist denn Ihr Befund?
Mansel: In den jüngeren Untersuchungen ist in den letzten Jahren herausgefunden worden, da geht es um selbst berichtete Delinquenz. Da werden die Jugendlichen befragt, hast du in den letzten Jahren dich mit einem anderen geschlagen oder verprügelt, so, dass der andere blutende Wunden hatte. Und der Anteil der Jugendlichen, der angibt, ich habe so was im Zeitraum des letzten Jahres gemacht, ist im Grunde genommen in den letzten Jahren zurückgegangen.
Kitzler: Und bezieht sich das auch auf Gewalt gegen Sachen? Man denke nur an die Auto-Inbrandsteck-Aktionen, oder jetzt diese Anschläge auf die Bahn.
Mansel: In solchen Untersuchungen wird primär immer die personale Gewalt, also die Gewalt zwischen Personen behandelt. Es werden aber auch vandalistische Verhaltensweisen erfasst und solche Sachen wie Sachbeschädigungen. Da sind die Steigerungsraten auch eher rückläufig.
Kitzler: Die Politik reagiert ja oft - vor allem aus dem konservativen Lager - mit einem Ruf nach Law and Order-Politik, nach mehr staatlicher Kontrolle. Wie reagieren denn solche gewaltbereiten Gruppen darauf?
Mansel: Ich denke, das wird ihre ausweglose Situation nicht beseitigen, ja im Gegenteil. Wenn sie inhaftiert werden, dann sind die Chancen ihrer eigenen Lebensgestaltung noch geringer, und von daher, denke ich, ist das für die Jugendlichen selbst wenig abschreckend, insbesondere weil eben dieser Hass aus einer Situation heraus erfolgt, in der man sich nicht unbedingt selbst unter Kontrolle hat.
Kitzler: Ist die Antwort denn, um diese Gewaltbereitschaft einzudämmen: Man muss den Menschen eine Perspektive geben?
Mansel: Ich denke, ja. Diese Jugendlichen brauchen wieder eine Perspektive, dass sie wieder eine Zukunft sehen, in der Gesellschaft ihren Platz einnehmen zu können, in der sie sich weiterentwickeln können, für ihren Lebensunterhalt sorgen können in einem Job, in dem sie auch Fähigkeiten und Fertigkeiten weiterentwickeln wollen. Also das ist heute für viele Jugendliche sehr zentral, dass Erwerbsarbeit auch zur Identitätsentwicklung mit beiträgt.
Kitzler: Jürgen Mansel, Professor am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Uni Bielefeld. Haben Sie vielen Dank für das Gespräch und einen schönen Tag.
Mansel: Ich habe zu danken.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr auf dradio.de:
Brandanschläge lösen Debatte um Linksextremismus aus -
Bundesanwaltschaft ermittelt nicht wegen Terrorismus
Vor allem Politiker der SPD haben in diesen Tagen aber im Gegensatz dazu davor gewarnt, das Thema zu sehr aufzubauschen. Zwar sind bei den Anschlägen bislang keine Menschen zu Schaden gekommen – das war offenbar auch nicht das Ziel der Täter -, aber diese Taten, sie bleiben Gewaltakte. Und wie auch immer die Debatte darüber ausgeht, wir möchten heute versuchen zu verstehen: Was treibt Menschen eigentlich dazu, nicht mehr auf Argumente zu setzen, sondern auf Zerstörung, und vor allem wie passiert es, dass sich eine Gruppe auf einmal in Gewalt verrennt?
Darüber spreche ich mit Jürgen Mansel, Professor am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Uni Bielefeld. Schönen guten Morgen!
Jürgen Mansel: Schönen guten Morgen, Herr Kitzler.
Kitzler: Die Gewalt in unserer Gesellschaft nimmt zu, das belegen ja die Kriminalstatistiken, und Gewalt entsteht oft nicht dann, wenn Menschen allein sind, sondern in Gruppen. Warum ist das so?
Mansel: Also ob Gewalt zunimmt, denke ich, ist zunächst erst einmal eine andere Frage. Die polizeilich registrierte Gewalt nimmt zu. In Dunkelfeldforschungen kommen wir da zu ganz anderen Befunden. Also wir gehen davon aus, dass sich diese Jugendlichen in eine gewisse Protestbewegung begeben. Die Protesthaltung wächst im Grunde genommen aus ihrer Perspektivlosigkeit, aus ihrer Hoffnungslosigkeit, die dadurch entsteht, dass die Jugendlichen für sich in dieser Gesellschaft keine Zukunft sehen.
Sie haben also nicht das Gefühl, dass sie gestaltend auf ihr Leben einwirken können, um sich gegebenenfalls in die Gesellschaft zu integrieren und einen Platz auch im Erwerbssystem zu erhalten, sondern sie gehen davon aus, dass sie praktisch keine Chance haben, im Erwerbsleben irgendwann Fuß zu fassen, und von daher entsteht so eine Protesthaltung gegen diese Gesellschaft, die sie in einer gewissen Art und Weise ausgrenzt, zu Personen macht, die eben in dieser Gesellschaft keinen Platz finden können.
Kitzler: Mich interessiert, wie das passiert in einer Gruppe, wenn aus diesem Frust, den Sie beschrieben haben, dann Gewalt wird. Wie funktioniert das? Verstärkt die Gruppe diesen Frust noch?
Mansel: Da die Jugendlichen gemeinsam diese Erfahrung machen, also ich bin nicht der einzige, der unter dieser Perspektivlosigkeit leidet, der keinen Job hat, sondern meine Freunde, die Gruppe, mit der ich zusammen bin, hat dieselben Erfahrungen, - ja, und dann kann natürlich das in der Gruppe sehr viel schneller eskalieren, weil dann ist einer da, der es vormacht, und die anderen machen es nach.
Kitzler: Der einzelne Mensch hat normalerweise seine vielleicht gewalttätigen Neigungen unter Kontrolle, kann sich vielleicht irgendwie austoben. Anders ist das in der Gruppe schwerer?
Mansel: In der Gruppe fällt das in dem Sinne leichter, weil man dann in der Regel mit Gleichgesinnten zusammen ist und man versucht dann, durch solche Handlungen in einer gewissen Art und Weise bei diesen Gleichgesinnten Anerkennung zu erhalten. Und in dem Sinne, wie dann die Personen in der Gruppe entsprechend handeln, also ähnlich handeln, kann sich das Verhalten gegenseitig der Jugendlichen bekräftigen.
Kitzler: Bei diesen Berliner Anschlägen ist ja offenbar eine eher kleine Gruppe verantwortlich. Die hat auch politische Ziele formuliert, die sind aber eher wage. Ist Gewalt normalerweise in solchen Gruppen eher ein Selbstzweck, oder geht es doch darum, wirkliche Ziele zu erreichen?
Mansel: Das mag bei den Jugendlichen sehr stark unterschiedlich sein. Sie sind sich möglicherweise ihrer aussichtslosen Situation gar nicht so sehr bewusst, sondern das ist mehr so ein dumpfes Gefühl, was da vorherrscht, und sie merken, meine Freunde, die haben eben keine Chancen. Das ist nun aber nicht bewusst dann herbeigezielt, sondern das entsteht im Grunde genommen aus der Situation heraus, wenn man eben merkt, ich habe keine Perspektive, und Gewalt ist dann eine Reaktionsform, in der man eben versucht, eben genau diesen Einfluss herzustellen, denn durch Gewalt wird etwas bewegt, man bekommt Aufmerksamkeit geschenkt in der Öffentlichkeit, man sieht, dass man in einer Art und Weise noch da ist und dass sich die Gesellschaft mit den Jugendlichen dann auch auseinandersetzt.
Kitzler: Sie haben am Anfang gesagt, die Statistik, die Kriminalstatistik, die müsste man anzweifeln, ob das wirklich so ist, dass die Gewalt wächst. Was ist denn Ihr Befund?
Mansel: In den jüngeren Untersuchungen ist in den letzten Jahren herausgefunden worden, da geht es um selbst berichtete Delinquenz. Da werden die Jugendlichen befragt, hast du in den letzten Jahren dich mit einem anderen geschlagen oder verprügelt, so, dass der andere blutende Wunden hatte. Und der Anteil der Jugendlichen, der angibt, ich habe so was im Zeitraum des letzten Jahres gemacht, ist im Grunde genommen in den letzten Jahren zurückgegangen.
Kitzler: Und bezieht sich das auch auf Gewalt gegen Sachen? Man denke nur an die Auto-Inbrandsteck-Aktionen, oder jetzt diese Anschläge auf die Bahn.
Mansel: In solchen Untersuchungen wird primär immer die personale Gewalt, also die Gewalt zwischen Personen behandelt. Es werden aber auch vandalistische Verhaltensweisen erfasst und solche Sachen wie Sachbeschädigungen. Da sind die Steigerungsraten auch eher rückläufig.
Kitzler: Die Politik reagiert ja oft - vor allem aus dem konservativen Lager - mit einem Ruf nach Law and Order-Politik, nach mehr staatlicher Kontrolle. Wie reagieren denn solche gewaltbereiten Gruppen darauf?
Mansel: Ich denke, das wird ihre ausweglose Situation nicht beseitigen, ja im Gegenteil. Wenn sie inhaftiert werden, dann sind die Chancen ihrer eigenen Lebensgestaltung noch geringer, und von daher, denke ich, ist das für die Jugendlichen selbst wenig abschreckend, insbesondere weil eben dieser Hass aus einer Situation heraus erfolgt, in der man sich nicht unbedingt selbst unter Kontrolle hat.
Kitzler: Ist die Antwort denn, um diese Gewaltbereitschaft einzudämmen: Man muss den Menschen eine Perspektive geben?
Mansel: Ich denke, ja. Diese Jugendlichen brauchen wieder eine Perspektive, dass sie wieder eine Zukunft sehen, in der Gesellschaft ihren Platz einnehmen zu können, in der sie sich weiterentwickeln können, für ihren Lebensunterhalt sorgen können in einem Job, in dem sie auch Fähigkeiten und Fertigkeiten weiterentwickeln wollen. Also das ist heute für viele Jugendliche sehr zentral, dass Erwerbsarbeit auch zur Identitätsentwicklung mit beiträgt.
Kitzler: Jürgen Mansel, Professor am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Uni Bielefeld. Haben Sie vielen Dank für das Gespräch und einen schönen Tag.
Mansel: Ich habe zu danken.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr auf dradio.de:
Brandanschläge lösen Debatte um Linksextremismus aus -
Bundesanwaltschaft ermittelt nicht wegen Terrorismus