Die Zumutung von Ehrlichkeit

Von Marianne Theil |
Soll man sich wundern, dass auch unter Deutschlands Studenten banale Betrugsaffären verbreitet sind? Zum Beispiel beim Bafög. Vor einigen Tagen kam heraus, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil der Studenten sich Bafög-Zahlungen erschwindelt hat. Jeder siebzehnte Studierende gab sich ärmer aus, als er ist und kassierte Staatsknete, die für Bedürftige vorgesehen war und nicht für Gierige.
Man darf sich nicht wundern. Es ist doch üblich in diesem unserem Land, dass der so genannte Vater Staat beschummelt und betrogen wird, was das Zeugs hält. Ist es nicht so, dass brave Bürger, die nicht im Traum auf die Idee kämen, eine Tüte Milch zu klauen oder die Zeche zu prellen, dass also die unentbehrlichen Stützen des Systems skrupellos und kreativ den Staat bestehlen? Hören wir nicht täglich von Sozialmissbrauch, Mitnahmeeffekten, Steuerhinterziehung, von Bilanzfälschungen, Subventionsschwindeleien und Schwarzarbeit? Wird Ehrlichkeit nicht als Zumutung empfunden? Sagen wir uns nicht augenzwinkernd, dass man sich nur nicht erwischen lassen darf? Hat der Bundesverfassungsrichter Udo Steiner nicht recht, wenn er den Deutschen ein "Mentalitätsproblem" mit dem Sozialstaat vorwirft und sagt: "Man holt aus dem staatlichen System heraus, was man nur herausholen kann."
Nun der Fall jener fast 64.000 Bafög-Studenten, die sich in den Jahren 2000 bis 2002 insgesamt rund 252 Millionen Euro erschlichen. Sie hatten keine Lust, ihre Vorsorge-Ersparnisse für die Ausbildung aufzubrauchen. Also unterschlugen sie kurzerhand Sparguthaben, Aktien oder Ausbildungsversicherungen, die über der zulässigen Grenze lagen - derzeit: 5200 Euro.
Ehrlichkeit muss zumutbar sein. Deshalb könnte man fragen, beispielsweise, ob die Vermögensgrenzen beim Bafög nicht zu niedrig sind. Womit wir das strittige Thema der Bildungsfinanzierung streifen: nämlich das Spannungsfeld von individuellem Gewinn und gesellschaftlicher Notwendigkeit von Bildung.

Die Unehrlichkeit der Bafög-Schwindler ist keine Petitesse. Die Studis werden wegen einer Ordnungswidrigkeit belangt und müssen schlimmstenfalls mit einem Strafverfahren rechnen. Keine Nachsicht also für studierende Sozialabstauber. Weil sie Bildungs-Privilegierte sind, und auf dem Arbeitsmarkt bessere Chancen haben als etwa Hauptschüler. Und bevor diese Staats-Stütze beanspruchen können, wenn sie beispielsweise arbeitslos werden, müssen sie auch erst einmal ihre Ersparnisse aufbrauchen oder ihr Häuschen verkaufen.

In unserem Land hat sich anscheinend herumgesprochen, dass der Ehrliche der Dumme ist. Wir haben wir ein Problem mit der Ehrlichkeit. Vielleicht ist es ja so, dass die braven Bürger inzwischen den Schlachtruf der Studenten der 68er Zeit verinnerlicht haben, der so geht: "legal, illegal - scheißegal". Der kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaft sprachen die aufsässigen Studenten damals Begriffe wie Ehre, wie Verantwortung für die Allgemeinheit ab. Inzwischen sind die 68er Studenten in Führungspositionen angelangt und haben erreicht, was sie früher vehement ablehnten.

Wieso eigentlich sollten die Studenten von heute moralischer sein als Manager, die Steuerhinterziehung und Bestechung als Kavaliersdelikt betrachten? Wieso sollten sie weniger geldgierig sein als die Essers oder Ackermanns? Persönliches Wohlergehen wird gegen soziale Verantwortung ausgespielt. Man darf sich nicht wundern, aber auch nicht entschuldigen, dass auch unter Studenten die Mitnahme-Mentalität grassiert. Werden sie, die einmal die "Elite" bilden sollen, wegen falscher Angaben zu ihren Vermögensverhältnissen erwischt, dürfen sie nicht anders behandelt werden als schummelnde Sozialhilfeempfänger oder Arbeitslose, die einen neuen Job unterschlagen. Sozialbetrug gehört bestraft. Ehrlichkeit darf nicht als Zumutung empfunden werden. Ehrlichkeit müssen wir uns zumuten.

Marianne Theil, langjährige Korrespondentin für verschiedene Medien in Bonn, Wechsel in die Wirtschaftsredaktion des WDR Köln (Hörfunk), für WDR /ARD Korrespondentin in Brüssel, Washington D.C. und Berlin, jetzt freie Journalistin in Berlin.