Die Zukunft im Blick

Angelehnt an George Orwells "1984" zeichnet Cory Doctorow in seinem Science Fiction-Thriller das Bild eines totalen Überwachung- und Präventionsstaates, der in den USA Wirklichkeit geworden ist. Eine Gruppe jugendlicher Hacker will das nicht hinnehmen.
San Francisco in den 20er-Jahren dieses Jahrhunderts. Amerika ist dank fortgeschrittener digitaler Technik auf dem Weg zum Polizeistaat. Die Überwachung fängt bei den Jüngsten an: Gangerkennungskameras in den Schulfluren; Computer in den Klassenräumen, die jede Eingabe registrieren und Funkchips in Schulbüchern – all das gehört zum Alltag. Parallel dazu hat sich eine jugendliche Gegenkultur entwickelt, deren Ziel es ist, die allgegenwärtigen Sicherheitssysteme zu knacken und Computerprogramme in Umlauf zu bringen, die eine unbeobachtete Kommunikation möglich machen.

Ganz vorn mit dabei: der 17-jährige Marcus Yallow, ein Verfechter der Freiheit und begeisterter Computerspieler. Als er und drei seiner Freunde heimlich die Schule verlassen, um an einem Reality Game teilzunehmen, sprengen Terroristen die Oakland Bay Bridge in die Luft. Von diesem Moment an ist nichts mehr, wie es war. Die vier jungen Leute werden als Verdächtige festgenommen und von Agenten der Heimatschutzbehörde DHS tagelang verhört und gedemütigt. Als Marcus – immer noch unter Verdacht stehend – freikommt, wird er weiter beschattet.

Gleiches gilt für sämtliche Bürger San Franciscos. Seit dem Anschlag gilt jeder als potentieller Terrorist. Alle stehen rund um die Uhr unter Beobachtung der Heimatschutzbehörde – einer Art Stasi mit digitalen Mitteln. Freiheit und Privatsphäre gelten von nun als Sicherheitsrisiko, bis dahin noch verbliebene Bürgerrechte werden jetzt völlig außer Kraft gesetzt. Marcus beschließt, sich zu wehren. Er gründet ein alternatives Kommunikationsnetzwerk, des XNet, und organisiert darüber eine Gegenbewegung. In einem Showdown fällt am Ende die Entscheidung, wer San Francisco in Zukunft regieren darf: ein totalitäres Regime oder eine demokratische Gesellschaft.

"Little brother" ist mehr als ein gelungener Science Fiction-Roman; es ist eine spannende Mischung aus Politthriller, Liebesgeschichte und Bedienungsanleitung zum Hacken von Sicherheitssystemen. Allein das schon ist ein origineller Ansatz. Aber Cory Doctorow will nicht nur zeigen, dass man sich gegen die Einschränkung von Bürgerrechten wehren kann und sollte, sondern auch, wie es technisch funktioniert. Wem diese Technikexkurse zu trocken sind, der wird entschädigt durch die Spannung der Geschichte, durch Einblicke in den Alltag der Digital Natives und treffende politische Kritik, etwa wenn es um paranoide Terrorismusbekämpfung geht. "Dieser ganze Müll, diese ganzen Röntgen- und Personenchecks, die sind alle total sinnlos, stimmt´s?", lässt er seinen Helden sagen und zieht damit den Bogen ins heute.

Besprochen von Vera Linß

Cory Doctorow: Little Brother
Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbeck bei Hamburg 2010
512 Seiten, 14,95 Euro