"Die Zukunft des 'Klassischen'"
Dass ein Archäologe und Kunsthistoriker die Frage, wie wichtig die klassische Bildung für die Identität Europas sei, mit "sehr wichtig" beantwortet, überrascht wenig. Doch die Gründe, die der Italiener Salvatore Settis in seinem schmalen Buch "Die Zukunft des 'Klassischen'" anführt, tun es schon. Luzide argumentierend staubt er die Antike so gehörig ab, dass sie in der Gegenwart ankommt und zugleich fern bleibt, vertraut und doch fremd erscheint - kurz: als etwas, mit dem wir uns beschäftigen müssen, um unsere Kultur und andere Kulturen zu verstehen.
Allerdings verschwindet derzeit die klassisch-antike Kultur, klagt Settis, aus den Studiengängen und der gegenwärtigen Kultur der europäischen Länder, obwohl sie als gemeinsame identitätsstiftende Wurzel gilt. Es bleibt ein ungefähres Wissen, ein ahistorischer Steinbruch von Zitaten, Bildern und Namen, der als universal ausgegeben wird und insgeheim, so Settis in zahlreichen Seitenblicken auf die Diskussionen um Universalismus, Relativismus und Postkolonialismus, die Überlegenheit der abendländischen Kultur begründen soll.
Welch differenziertes Verständnis von der Antike besaßen dagegen frühere Zeiten - nicht nur das 19. Jahrhundert, in dem der Begriff des "Klassischen" geläufig wurde. In fünfzehn kurzen, von der Gegenwart in die Vergangenheit zurück schreitenden Kapiteln zeigt Settis, wie die Antike seit dem Mittelalter, sogar schon in ihm immer wieder entdeckt wird. Die Renaissance des 15. und 16. Jahrhunderts ist nur die bekannteste von vielen Wiederentdeckungen. Selbst die Moderne des 20. Jahrhunderts, heute "klassische Moderne" genannt, fand ihre Klassik in einem Teil der griechischen Antike, im dorischen Zeitalter, und schon die alten Griechen kannten eine Klassik - nämlich eine Hochphase der Kunst im Athen des 5. und 6. Jahrhundert vor Christus, vor dem Peloponnesischen Krieg.
Das "Klassische" ist also nicht zeitlos. Immer beschwört die Gegenwart in ihm etwas Vergangenes - eine Zeit, einen Raum, einen Stil - als vollkommen und vorbildlich. Das vermeintliche Modell ist eine Rekonstruktion. Vehemenz erlangten die Varianten, weil mit ihnen nicht nur ästhetische Fragen, sondern auch Idealvorstellungen von Politik, Moral und Sittlichkeit verhandelt wurden.
Ebenso wie den Begriff des Klassischen unterzieht Settis den des Altertums einer historischen Kritik. Denn wir beziehen uns nur auf die griechische und die römische Antike, die lange Zeit als parallele Erscheinungen galten, bevor sie bei Winckelmann einander gegenübertreten. Kaum beachtet werden die Einflüsse zwischen den antiken Kulturen in Mesopotamien, Ägypten und Griechenland oder zwischen Etruskern, Römern, Galliern und Briten. Die Rede von "der" Klassik leugnet den Austausch zwischen den alten Hochkulturen. Globalisierung, kulturelle Hegemonie und Angleichung finden sich schon damals. Das Studium des Altertums ist für Settis daher der "Schlüssel zum Verständnis der kulturellen Vielfalt unserer heutigen Welt und ihrer gegenseitigen Durchdringung".
Die zyklische Wiederkehr des Klassischen unterscheidet die abendländische Kultur von den großen außereuropäischen Kulturen Chinas, Indiens, Japans und Südamerikas. Settis macht für diese Besonderheit zunächst das biologisch-evolutionistische Modell, das Winckelmann bei Plinius dem Älteren und dieser bei Dikaiarchos, einem Schüler des Aristoteles, gefunden hatte. Danach entwickeln sich Geschichte und Kunst wie der Mensch, sie streben nach Vollendung und sterben - können allerdings anders als der Mensch wiedergeboren werden.
Dafür führt Settis noch einen zweiten Grund an: den plötzlichen Zerfall des römischen Reiches. Dessen traumatisches Ende ließ ein besonderes Verhältnis der Europäer zur Ruine entstehen, die zugleich Anwesenheit und Abwesenheit, Lebenszeichen und Tod der einstigen Größe ist. Von diesen Ruinen nahm die Renaissance des Altertums immer wieder ihren Ausgang. "Andere Kulturen", schreibt Settis, "werden vom Pathos der Tradition beherrscht, deren Träger sie sind, unsere vom Pathos der Ruinen, von einem irreparablen Bruch, den es zu heilen gilt: Die Wiedergeburt ist somit die unabdingbare Voraussetzung für Tradition und Erinnerung." Wer Salvatore Settis gelesen hat, kann nicht daran zweifeln, dass das Klassische eine Zukunft hat. Eine? Viele!
Salvatore Settis: "Die Zukunft des 'Klassischen'"
Eine Idee im Wandel der Zeiten
Aus dem Italienischen von Friederike Hausmann
Verlag Klaus Wagenbach. Berlin 2005
108 Seiten. 19,50 Euro
Welch differenziertes Verständnis von der Antike besaßen dagegen frühere Zeiten - nicht nur das 19. Jahrhundert, in dem der Begriff des "Klassischen" geläufig wurde. In fünfzehn kurzen, von der Gegenwart in die Vergangenheit zurück schreitenden Kapiteln zeigt Settis, wie die Antike seit dem Mittelalter, sogar schon in ihm immer wieder entdeckt wird. Die Renaissance des 15. und 16. Jahrhunderts ist nur die bekannteste von vielen Wiederentdeckungen. Selbst die Moderne des 20. Jahrhunderts, heute "klassische Moderne" genannt, fand ihre Klassik in einem Teil der griechischen Antike, im dorischen Zeitalter, und schon die alten Griechen kannten eine Klassik - nämlich eine Hochphase der Kunst im Athen des 5. und 6. Jahrhundert vor Christus, vor dem Peloponnesischen Krieg.
Das "Klassische" ist also nicht zeitlos. Immer beschwört die Gegenwart in ihm etwas Vergangenes - eine Zeit, einen Raum, einen Stil - als vollkommen und vorbildlich. Das vermeintliche Modell ist eine Rekonstruktion. Vehemenz erlangten die Varianten, weil mit ihnen nicht nur ästhetische Fragen, sondern auch Idealvorstellungen von Politik, Moral und Sittlichkeit verhandelt wurden.
Ebenso wie den Begriff des Klassischen unterzieht Settis den des Altertums einer historischen Kritik. Denn wir beziehen uns nur auf die griechische und die römische Antike, die lange Zeit als parallele Erscheinungen galten, bevor sie bei Winckelmann einander gegenübertreten. Kaum beachtet werden die Einflüsse zwischen den antiken Kulturen in Mesopotamien, Ägypten und Griechenland oder zwischen Etruskern, Römern, Galliern und Briten. Die Rede von "der" Klassik leugnet den Austausch zwischen den alten Hochkulturen. Globalisierung, kulturelle Hegemonie und Angleichung finden sich schon damals. Das Studium des Altertums ist für Settis daher der "Schlüssel zum Verständnis der kulturellen Vielfalt unserer heutigen Welt und ihrer gegenseitigen Durchdringung".
Die zyklische Wiederkehr des Klassischen unterscheidet die abendländische Kultur von den großen außereuropäischen Kulturen Chinas, Indiens, Japans und Südamerikas. Settis macht für diese Besonderheit zunächst das biologisch-evolutionistische Modell, das Winckelmann bei Plinius dem Älteren und dieser bei Dikaiarchos, einem Schüler des Aristoteles, gefunden hatte. Danach entwickeln sich Geschichte und Kunst wie der Mensch, sie streben nach Vollendung und sterben - können allerdings anders als der Mensch wiedergeboren werden.
Dafür führt Settis noch einen zweiten Grund an: den plötzlichen Zerfall des römischen Reiches. Dessen traumatisches Ende ließ ein besonderes Verhältnis der Europäer zur Ruine entstehen, die zugleich Anwesenheit und Abwesenheit, Lebenszeichen und Tod der einstigen Größe ist. Von diesen Ruinen nahm die Renaissance des Altertums immer wieder ihren Ausgang. "Andere Kulturen", schreibt Settis, "werden vom Pathos der Tradition beherrscht, deren Träger sie sind, unsere vom Pathos der Ruinen, von einem irreparablen Bruch, den es zu heilen gilt: Die Wiedergeburt ist somit die unabdingbare Voraussetzung für Tradition und Erinnerung." Wer Salvatore Settis gelesen hat, kann nicht daran zweifeln, dass das Klassische eine Zukunft hat. Eine? Viele!
Salvatore Settis: "Die Zukunft des 'Klassischen'"
Eine Idee im Wandel der Zeiten
Aus dem Italienischen von Friederike Hausmann
Verlag Klaus Wagenbach. Berlin 2005
108 Seiten. 19,50 Euro