Die Zukunft der Institutionen im Kapitalismus

Vorgestellt von Jörg Plath |
Der Titel von Richard Sennetts neuem Buch „Die Kultur des neuen Kapitalismus“ ist der Untertitel seines vorletzten. Untersuchte „Der flexible Mensch“ von 1998 die „Corrosion of Character“, so der Originaltitel, als Folge des hohen Maßes an geforderter Flexibilität im globalen Kapitalismus, so fragt Sennett in seinem neuen Buch, wie Verwaltung, berufliche Qualifikation und Politik durch die Ideale der zwar noch kleinen, aber tonangebenden New Economy verändert werden. Nach den Individuen widmet sich Sennett nun den Institutionen.
Deren Geschichte schildert der wohl bekannteste amerikanische Soziologe als Versuch, der gefährlichen Instabilität des Kapitalismus im 19. Jahrhundert Herr zu werden. Unternehmen übernahmen damals militärische Organisationsmodelle, um durch ein striktes Regime Risiken zu minimieren und Gewinne zu verstetigen; der deutsche Staat entwickelte unter Bismarck ein Sozialsystem, um diejenigen zu integrieren, von denen Aufruhr zu befürchten war.

Diese Institutionen des „sozialen Kapitalismus“ verteilen Macht und Autorität hierarisch von oben nach unten: Sie gleichen einer Pyramide. Max Weber sah in ihnen ein „stahlhartes Gehäuse“, doch Sennett teilt diese „psychologische“ Sicht nicht. Er lobt Stabilität und Festigkeit der Pyramide, weil sich dank ihnen Beziehungen zwischen Menschen entwickeln können, die Zeit zu ihrer Entstehung brauchen.

Im „neuen Kapitalismus“ wird die Pyramide abgetragen, aber die Menschen gewinnen nicht Freiheit, sondern Angst und Unsicherheit. Unternehmen und Staat verfolgen nun kurzfristige Ziele, sind flach organisiert und bieten keinen stabilen Rahmen mehr: Arbeitsgruppen oder gar Jobs wechseln ständig. Erfahrung, Loyalität, informelles Vertrauen und institutionsspezifisches Wissen gelten wenig, Risikobereitschaft und Kommunikationsfähigkeiten viel. An die Stelle der Pyramide tritt der MP3-Player: Die Arbeit verläuft nicht mehr in festgelegter Reihenfolge, sondern sprunghaft, stück- und ausschnittweise.

Die Orientierung auf die Zukunft erkennt Sennett auch in der beruflichen Qualifikation und der Politik. Dem Bürger biete man als passivem Konsumenten ständig neue politische „Produkte“ mit Hilfe der Werbung an, und im Berufsleben werde die handwerkliche Einstellung bekämpft, die eine Sache optimal beherrschen will. Die neue Sozialordnung orientiere sich nicht an den in der Vergangenheit erworbenen Fähigkeiten, sondern an potenziellen. Was ist dagegen zu tun? Sennett empfiehlt etwas ratlos neue, von den Bürgern initiierte Institutionen, Teilzeitarbeit und ein Grundeinkommen für jedermann. Außerdem solle der Staat verstärkt einstellen.

Die Stärken des Buches liegen im ersten Kapitel, das einen guten, wenn auch nicht originellen Überblick über wichtige Tendenzen des Wirtschaftslebens bietet. Schon hier fällt allerdings ins Auge, dass Sennetts Normen und Ideale sämtlich aus der Vergangenheit stammen. Sein Lob des Handwerks etwa geht einher mit heftiger Kritik an der bürgerlichen Forderung, den Zugang zu Ämtern nicht durch adlige Geburt, sondern durch Fähigkeitsnachweise zu regeln. Was für den Soziologen der Anfang des Verderbens ist, gilt gemeinhin als Anfang vom Ende des Feudalismus ...

Sennett blickt auf die zwischenmenschlichen Beziehungen der Vergangenheit und Gegenwart, als ob sie sich in trauter Koexistenz mit dem „sozialen Kapitalismus“, ja sogar geschützt von ihm entwickelt hätten. Das Gegenteil ist der Fall. Ihre Qualitäten sind das Ergebnis beharrlicher Kämpfe, sie müssen fortwährend verteidigt werden. Dafür braucht es einen klaren Blick auf die rasanten Veränderungen der Gegenwart, die bei vielen zu Recht Angst erregen – und keinen sentimentalen.

Richard Sennett: Die Kultur des neuen Kapitalismus
Aus dem Amerikanischen von Michael Bischoff
Berlin Verlag. 160 Seiten
18 Euro