"Die Ziele der Bahnreform sind völlig verfehlt"

Astrid Randerath im Gespräch mit Joachim Scholl · 10.01.2011
Modern und effizient sollte die Bahn nach ihrer Umwandlung in eine Aktiengesellschaft werden. Stattdessen verschlingt das Unternehmen weiterhin Milliarden Euro, während die Fernzüge immer seltener genutzt werden, klagt die Autorin des "Schwarzbuchs Deutsche Bahn".
Joachim Scholl: Millionen von Reisenden steckt dieses Chaos wohl noch in den Knochen. Im Dezember, über Weihnachten und Neujahr bekam die Deutsche Bahn nichts richtig auf die Reihe. Gut, das Wetter war extrem, aber schnell war klar, dass die Mängel auch selbst verschuldet sind. Heute haben die Verkehrsminister auf einer Sonderkonferenz in Berlin debattiert und die Bahn wenig geschont. Bestens vertraut mit der Sachlage und ihren Ursachen vor allem ist die Journalistin Astrid Randerath. Guten Tag, Frau Randerath!

Astrid Randerath: Ich grüße Sie!

Scholl: Sie haben vor gut einem Jahr zusammen mit einem Kollegen das "Schwarzbuch Deutsche Bahn" veröffentlicht. In jenem Winter 2009/2010 war die Bahn ebenfalls schon Dauerthema. Hat es Sie eigentlich überrascht, dass es diesmal wieder genauso schlimm und schlimmer wurde, sprich dass anscheinend überhaupt nichts passiert ist bei der Bahn?

Randerath: Mich hat es tatsächlich nicht überrascht, denn das, was wir da jetzt erleben, ist wirklich Resultat lang währender Sparmaßnahmen bei der Bahn. Um mal ein ganz praktisches Beispiel zu nennen: Wir hatten vor Jahren noch Zäune, die wurden aufgestellt an den Bahngleisen gegen Schneeverwehungen. Warum gibt es die nicht mehr? Die müssen auf- und abgestellt werden, und da liegt doch die Vermutung sehr nahe, dass da das Personal eingespart wurde. Ein weiterer Punkt ist: Unser modernen Neigezüge sind offensichtlich sehr empfindlich bei kalten Temperaturen, das ist so, das sind Hightech-Züge, aber andere Länder, wie die Schweiz zum Beispiel, die haben ausreichend Ersatzzüge.

Also da stehen immer Ersatzzüge und mit diesen Ersatzzügen auch Lokfahrer parat für den Fall, dass ein Zug mal ausfällt. Und das kostet die Schweiz natürlich auch ziemlich viel Geld, denn wenn eben nichts passiert, dann wird der Lokführer ja auch bezahlt den ganzen Tag lang, aber im Notfall können die eben einspringen. Die Schweizer Bahn leistet sich das, bei uns sind diese Dinge alle eingespart worden.

Scholl: Kommen wir auf die Schweiz vielleicht später noch zu sprechen, Frau Randerath, aber erst mal zu unseren Belangen. 1994 wurde die Bahn in ihrer Form als Aktiengesellschaft gegründet, Alleininhaber ist die Bundesrepublik Deutschland. Die Deutsche Bahn AG ist das größte Eisenbahn- und Eisenbahninfrastruktur-Unternehmen in Europa, und ein Unternehmensziel war, einen damals trägen, ineffizienten, ständig defizitären Beamtenkoloss in einen modernen Wirtschaftskonzern zu verwandeln. Ist das nicht gelungen?

Randerath: Ich finde, es ist überhaupt nicht gelungen. Also das wirklich gut gemeinte Ziel der Bahnreform war ja, deutlich mehr Verkehr auf die Schiene zu bringen, der Haushalt sollte entlastet werden, es sollte einen fairen Wettbewerb geben im Schienenverkehr – nichts davon ist bislang eingetreten. Stattdessen haben wir eine Bahn, die wirklich nach wie vor Milliarden Euro verschlingt und deren Fernverkehrszüge von den Bahnreisenden immer seltener genutzt werden. Also die Ziele der Bahnreform sind völlig verfehlt.

Scholl: Nun kann man aber schon sagen, Frau Randerath, dass sich die Bahn doch modernisiert hat, also die Züge wurden chic und immer schneller, Tausende von Bahnhöfen wurden renoviert, Schnellbahntrassen angelegt, der ganze Service wurde moderner. Ich meine, ich rege mich zwar immer noch auf über den völlig überteuerten Kaffee im Zug, aber ich bin doch, muss ich sagen, wirklich sehr gern Bahn gefahren im Gegensatz zu früher. War das nur schöner Schein, den jetzt dieser harte Winter entlarvt hat?

Randerath: Na ja, bestimmte Dinge sind tatsächlich auch besser geworden. Also zum Beispiel im Servicebereich hat sich viel getan, das muss man schon sagen. Ich habe den Eindruck, dass eine andere Informationspolitik gefahren wird, dass die Menschen auch darüber aufgeklärt werden, was gerade schiefläuft, da ist sehr viel mehr Transparenz zum Beispiel, oder auch die Entschädigungen funktionieren meines Erachtens besser. Ich habe das häufig auch in Anspruch nehmen müssen, weil ich eben sehr viel Bahn fahre und auch im Sommer in so einem Hitzezug gesessen habe – das hat alles sehr viel besser geklappt.

Aber es ist natürlich so, dass die Bahn in den letzten Jahren, wie Sie sagen, sehr auf schönen Schein gesetzt hat. Also es sind Schnellstrecken für Unsummen ausgebaut worden, also beispielsweise Nürnberg–Ingolstadt–München, und da muss man sich einfach mal vergegenwärtigen, dass jede Minute Fahrzeitersparnis 100 Millionen Euro kostet. Das ist natürlich Geld, das anderswo fehlt, also gleichzeitig fährt die Bahn nämlich auf Verschleiß. Wir haben im "Bahnbuch" seinerzeit veröffentlicht, welche Defekte an einem einzigen Tag – also das ist eine Liste, die normalerweise nicht publik wird, aber in dem Buch haben wir sie halt veröffentlicht – an einem einzigen Tag bei der Bahn auffallen: Also da sind Weichen defekt, da versagen Achsen und Bremsen. Und ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen, da wird mir als Bahnfahrer dann schon auch angst und bange.

Scholl: Experten sagen, der geplante Börsengang, die Privatisierung, das war der Anfang von allem Übel – warum eigentlich?

Randerath: Es ist natürlich deutlich gespart worden, und die Berliner S-Bahn ist ja das beste Beispiel dafür. Also seit 2005 wurden Wartungsarbeiten nicht mehr in vollem Umfang durchgeführt. Es sind Schäden an Rädern und an Bremsen einfach nicht mehr aufgefallen, weil die Wartungen nicht stattgefunden haben. Seit 2004 ist da ein immenses Sparprogramm gelaufen, denn die Berliner S-Bahn ist ausgeblutet worden für den Börsengang, weil einfach so erhebliche Gewinne eingefahren werden sollten.

Scholl: Nun heißt es ebenfalls im Chor der Kritiker, die Bahn investiert ihre Gewinne falsch, wirtschaftet im Ausland mit ihren zig Tochter- und Logistikunternehmen, kümmert sich deshalb zu wenig ums Kerngeschäft, das heißt also innerdeutschen Schienenverkehr, und Verkehrsminister Ramsauer annonciert jetzt markig: Das muss anders werden. Hat der Bund denn überhaupt noch die Befehlsgewalt, wenn er andererseits von der Bahn auch eine jährlich Dividende von 500 Millionen Euro verlangt?

Randerath: Ich finde, man muss sich immer wieder vor Augen führen, das ist unsere Bahn, das ist unsere Deutsche Bahn, die gehört uns Bundesbürgern. Seit fünf Generationen zahlen wir Steuergelder in die Deutsche Bahn ein, Ost und West. Insgesamt hat die Bahn einen geschätzten Wert von 150 Milliarden Euro. Das ist ein Riesenschatz, und der gehört uns Bundesbürgern. Im Grundgesetz ist gleichzeitig verankert, dass wir ein Recht darauf haben, dafür transportiert zu werden, dafür bezahlen wir dafür so viel Geld. Und natürlich sind dann die gewählten Vertreter auch dafür verantwortlich, genau zu gucken, was passiert da bei der Bahn, oder auch gegebenenfalls einzuschreiten, das ist deren Auftrag.

Scholl: Der Zug kam nicht pünktlich! Wir sind im Gespräch mit Astrid Randerath, sie ist Mitverfasserin des "Schwarzbuch Deutsche Bahn". Als Hebel für eine mögliche Verbesserung, Frau Randerath, wird gern in dem Streit auf die Monopolstellung der Bahn verwiesen, also das müssten eben andere Anbieter Konkurrenz und damit Druck ausüben. Nun könnte man sagen, im Regionalverkehr fährt man mit den privaten Bahnen, die es schon bundesweit vielerorts gibt, doch ganz gut. Hier gelingt ja diese Form von Privatisierung und ja, nicht dass eben eine Verschlechterung der Situation eintritt. Warum?

Randerath: Das kann man generell natürlich nicht so sagen. Es gibt in der Tat viele gute Beispiele von Privatisierung. Eines davon ist die Karlsruher Bäderbahn. Das ist schon auffallend, dass die Deutsche Bahn, als sie diese Region noch selbst unter ihren Fittichen hatte, da wirklich Miese gemacht hat, und die Karlsruher Bäderbahn schafft es in diesem kleinen begrenzten Gebiet, jährlich mehr Fahrgäste zu haben als der gesamte Fernverkehr der Bahn – das muss man sich mal vor Augen führen. Und die machen das einfach dadurch, dass die viele Bahnhöfe errichtet haben, die Bahnhöfe sind gepflegt, die Züge kommen sehr häufig, also es gibt einen sehr, sehr guten Fahrplan, die Züge fahren die ganze Nacht durch, der Service ist klasse, es gibt gute Entschädigungen und die Kunden goutieren das und die fahren das und die nutzen diese Bahn. Das ist also wirklich ein Beispiel, wo es geklappt hat, es gibt aber auch Beispiele staatlicher Bahnen, zum Beispiel die Schweiz, wo man sagen muss, da hat es auch sehr gut funktioniert. Also von daher kann man nicht generell sagen, Privatisierung ist wirklich das A und O oder auch die Verstaatlichung, es gibt in beiden Fällen beides.

Scholl: Ich meine, als abschreckendes Beispiel von kapitalistischem Raubbau gilt ja die Privatisierung von British Rail, der britischen Eisenbahn, das muss wirklich eine Geisterbahn inzwischen sein. Jetzt sagen Sie schon die Schweiz – was machen die Schweizer denn besser?

Randerath: Die Schweizer haben nicht so sehr wie wir auf die Schnellstrecken gesetzt, die haben nicht die Schnellstrecken so stark ausgebaut, sondern die haben das ganze Netz sehr stark ausgebaut. Und dann machen sie noch Folgendes: Sie haben einen Taktfahrplan, der funktioniert so: Es fährt ein Zug in den Bahnhof ein, gleichzeitig kommen ganz viele andere Züge, sodass die Menschen viele Umsteigemöglichkeiten haben. Die Bahn fährt sehr häufig, also es kommt sehr häufig vor, dass die Züge einfahren, und damit ist einfach auch ein sehr, sehr guter Service gegeben. Und das Resultat ist: In der Schweiz kaufen 380.000 Menschen jährlich die sogenannte Bahncard 100, die hat bei uns kaum jemand, die haben bei uns 30.000 Leute – also das heißt, man zahlt einmal und man fährt das ganze Jahr –, einfach, weil das System in der Schweiz so super funktioniert.

Scholl: Und bei uns ist sie einfach viel zu teuer. Frau Randerath, jetzt noch eine Frage vielleicht auch persönlich: Wir haben in diesen Belangen ja auch ein Kurzzeitgedächtnis, das ein bisschen schwach ist. Also wenn wir jetzt immer so auf die Bahn schimpfen, und das tun wir, glaube ich, seit gefühlten 300 Jahren, war es denn früher, als es die gute alte Staatsbahn noch gab und der Schalterbeamte wirklich ein Beamter war und der Fahrkartenknipser eben auch mit Pension und lebenslangem Anspruch, war das denn damals eigentlich alles so viel besser?

Randerath: So ganz generell kann man das natürlich nicht beantworten, aber es fallen schon einige Dinge auf, also wenn Sie es wirklich jetzt vergleichen wollen mit der Dampflok beispielsweise. Unser Schienennetz ist mittlerweile so marode, dass wir sehr viele Langsamfahrstellen haben, nur mal ein Beispiel genannt. Also das heißt, der Lokführer hat vorne ein Buch, und da steht drin: Hier ist eine marode Brücke, da muss ich abbremsen und sehr viel langsamer fahren, damit hier kein Unfall passiert. Und das führt beispielsweise dazu, dass Strecken, also die Strecke Berlin–Dresden unter Dampf seinerzeit schneller gefahren wurde als jetzt. Also von daher muss man wirklich sagen, vieles, was wir da an Investitionen gehabt haben in den letzten Jahren, hat sich nicht wirklich unbedingt gerechnet.

Scholl: Die Bahn in der Kritik. Das war Astrid Randerath. Im vergangenen Jahr hat sie zusammen mit einem Kollegen das "Schwarzbuch Deutsche Bahn" veröffentlicht. Es ist im Bertelsmann-Verlag erschienen. Herzlichen Dank, Frau Randerath, für das Gespräch!

Randerath: Gerne!
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