Die Wiedergeburt der Yamuna

Von Regina Kusch und Andreas Beckmann · 17.01.2012
Yamuna heißt der Fluss, der durch die indische Hauptstadt Delhi fließt. Bis jetzt blieb er weitgehend sich selbst überlassen - mit weitreichenden Folgen. Statt klarem Wasser fließt nur noch stinkende Brühe mit Bergen von Plastikmüll durch Delhi. Jetzt hält eine Gruppe junger Ökoaktivisten dagegen.
"Als ich Kind war, konnte ich hier am Fluss in Delhi Vögel beobachten. Das Wasser war sauber, selbst Mitte der 70er-Jahre noch. Heute ist es verseucht. Die Yamuna ist zum Abfalleimer der Stadt geworden."

Unterwegs mit dem Umweltschützer Ravi Agarwal. Kaum jemand in Delhi käme auf die Idee, zum Vergnügen Bootstouren auf dem Fluss zu unternehmen, der durch Neu Delhi fließt: Der Bug reißt, wenn es lange nicht geregnet hat, einen öligen schwarzen Schmierfilm an der Wasseroberfläche auf und schiebt zähflüssige Wellen vor sich her. Es riecht nach einer Mischung aus Fäulnis und Chemikalien. Am Ufer schlägt die Giftbrühe Methanblasen zwischen Wasserhyazinthen. Fast alle Industriebetriebe der Stadt leiten ihre Abwässer in den Fluss. Die Yamuna ist tot hier, sagt Ravi Agarwal, aber kaum jemand interessiere sich dafür.

"Die meisten Leute aus Delhi haben den Fluss noch nie gesehen. Vor allem, wenn man Leute aus der Oberschicht fragt, antworten sie: Wo liegt der Fluss? Es gibt keinen Fluss in Delhi! Die ignorieren ihn einfach. Deshalb will ich ihnen mit meinen Bootstouren die Yamuna überhaupt erst mal zeigen."

Gemeinsam mit anderen Künstlern versucht der Fotograf und Umweltschützer seit fünf Jahren, die Bürger Delhis auf die Umweltkatastrophe vor ihrer Haustür aufmerksam zu machen. Mit dabei war immer wieder auch Najot Altaf, die in ihren Filmen und Performances Wasser als Lebenselixier thematisiert.

"Über die Yamuna gibt es viele mythologische Lieder und Sagen. Die meisten drehen sich um Götter. Shiva hat aus ihr getrunken. Krishna soll als Kind darin gebadet und an ihren Ufern gespielt haben. Es gibt viele Geschichten. Eine besagt, dass ein Bad in der Yamuna jeden Menschen von der Angst vor dem Tod erlöst."

Nach hinduistischer Überlieferung gelten heilige Flüsse als Geschenke der Götter an die Menschen, um ihnen das Leben zu erleichtern.

"Ich muss allerdings sagen, heute jagt mir gerade die Vorstellung, in der Yamuna zu baden, Todesangst ein. Unsere Mythen und meine Sicht als gebildeter und bewusster Mensch gehen da weit auseinander. Es ist ja wissenschaftlich erwiesen, dass die Qualität des Wassers dermaßen schlecht ist, dass bei vielen Giftstoffen die Grenzwerte 25.000 mal so hoch liegen wie zulässig. Also der Fluss lädt wirklich nicht zum Baden ein."

Dennoch wird die Yamuna als Trinkwasserfluss genutzt. Weil große Teile Bevölkerung auf ihr Wasser angewiesen sind, müssen es die Stadtwerke aufwändig klären. Doch selbst danach ist das Wasser kaum genießbar. Wer es sich leisten kann, nimmt in Delhi längst kein Leitungswasser mehr, sondern kauft Wasser in Plastikflaschen.

Die allerdings landen, weil die Abfälle der indischen Hauptstadt größtenteils völlig unkontrolliert entsorgt werden, am Ende als leere Behälter zu Millionen wieder in dem Fluss, der eigentlich sauberes Trinkwasser bereitstellen sollte. Diesen absurden Kreislauf prangert Ravi Agrawal gemeinsam mit anderen Künstlern schon lange früher an.

"Ein Künstler, Vivan Sundaram hat mal ein Floß gebaut aus Tausenden von Plastikflaschen, in denen Mineralwasser teuer verkauft worden war und die später als Abfall im Fluss gelandet sind. Mit diesem Floss ist er über die Yamuna gerudert. Anschließend hat er die Flaschen auseinander genommen und zum Recycling gebracht, damit sie einem ökologischen Kreislauf zugeführt werden. So wie der Fluss auch zu einem Kreislauf des Lebens gehören sollte. Gemäß der Hindu-Religion kommen wir aus dem Wasser und nach dem Tod wird unsere Asche in einen Fluss gestreut."

Solche Aktionen haben allerdings bislang nur wenige Intellektuelle erreicht - und Touristen. Denen bleibt die Verschmutzung der Yamuna kaum verborgen. Denn von Delhi aus schleppt der Fluss seinen Gift-Cocktail weiter nach Süden, direkt am Taj Mahal in Agra vorbei und das besucht fast jeder Indien-Reisende. Doch für Ravi Agarwal ist ohnehin wichtiger, statt der Touristen die Menschen anzusprechen, die unmittelbar vom Fluss abhängig sind, so wie die Fischer von Jagadpur an der nördlichen Stadtgrenze Delhis.

"Sie werfen hier ihre Netze regelmäßig aus. Diese Familien leben in ihren Booten. Ursprünglich stammen sie aus Bengalen, kommen aber jedes Jahr nach dem Monsun wieder hierher und bleiben so lange, bis der Pegel in der Trockenzeit zu weit sinkt, um noch etwas zu fangen. Ihr gesamtes Einkommen holen sie aus dem Fluss."

Das Wasser wirkt im Norden der Stadt noch einigermaßen sauber, wenn auch nicht mehr so frisch wie am Fuße des Yamunotri-Gletschers am unteren Himalaya. Dort entspringt die Yamuna. Anschließend fließt sie 400 km durch die Ebenen des landwirtschaftlich geprägten Bundesstaates Haryana. Von den Feldern gelangen immer mehr Pestizide in den Fluss. Aber wenn Ravi Agarwal den Fischern davon erzählt, ignorieren sie es. Genauso wie den Plastikmüll am Ufer, wo sich kilometerlang Tüten, Flaschen und Kanister angesammelt haben. Sie fischen weiter und trinken sogar das unaufbereitete Wasser. Nicht nur, weil sie keine Alternative haben. Sondern auch, weil sie schlicht nicht glauben können, dass das gefährlich sein soll.

"Die Fischer sagen, der Fluss kann nicht verschmutzt sein. Natürlich sehen sie die Abfälle. Dennoch betrachten sie den Fluss nicht als verseucht. Das können sie gar nicht, weil er als heilig gilt. Sie baden dort, weil ein heiliger Fluss einem gut tut - das ist ihr tiefer Glaube. Der macht sie passiv. Ich selbst würde denken, man muss rein halten, was man als heilig verehrt. Aber sie meinen, ein Heiliger hilft sich selbst. Wenn du sagst, man muss etwas für den Fluss tun, glauben sie dir nicht."

Hunderte von Fotos über das Leben der Armen am Fluss hat Ravi Agarwal aufgenommen: Von Fischern, die mit vereinten Kräften ihre Netze und Reusen aus dem Wasser ziehen. Von Frauen, die Altäre am Flussufer mit Blumengirlanden und Räucherstäbchen schmücken, damit Yamuna ihnen gewogen bleibt. Oder von orangeleuchtenden Blüten der Studentenblume, die er im Giftschlamm drapiert hat, um zu zeigen, wie schön es am Ufer sein könnte.

Die Bilder hat Ravi Agarwal in Ausstellungen in Indien, aber auch in Europa oder Amerika präsentiert und ins Internet gestellt. Die Welt soll wissen, wie Indien mit der Yamuna umgeht. Die zuständigen Behörden wissen längst Bescheid. Sie haben schon 1993 einen "Yamuna Action Plan" ausgerufen. Alle Unternehmen mussten sich verpflichten, ihre Abwässer besser zu klären.

Gleichzeitig hat die Regierung 20 Milliarden Rupien, umgerechnet 220 Millionen Euro, für den Bau von Klärwerken bereit gestellt. Das Delhi Central Pollution Board hat auch regelmäßig Messergebnisse veröffentlicht, denen zufolge an allen bekannten Einleitungen die Schadstoffmengen abgenommen haben sollen.

Doch tatsächlich geht es der Yamuna nicht besser, sondern immer schlechter und so musste die Stadtverwaltung 2009 offiziell zugeben, dass der Fluss im Raum Delhi weitgehend tot und der Aktionsplan gescheitert ist.

"Sie wissen ja, ein gutes Bestechungsgeld ermöglicht viel in diesem Land."

Offensichtlich werden die Abfälle von Millionen Einwohnern Delhis immer noch im Fluss entsorgt. Viele Unternehmen leiten ihre Abwässer ebenfalls weiterhin ungefiltert ein. Gleichzeitig spekulieren andere schon auf die Grundstücke am Ufer. Denn Bauland wird immer knapper in der Hauptstadt. Und so fällt der Blick der Investoren in letzter Zeit doch wieder auf den Fluss, den die Bürger so lange ignoriert haben.

"Die Regierung will Shopping Malls bauen, Flaniermeilen für Touristen. Letztes Jahr haben sie das Athletendorf für die Commonwealth-Spiele in einer Flussaue im Südosten errichtet, hinter einem hohen Deich. Seitdem wollen viele am Fluss bauen. Da ist eine Menge Geld im Spiel. Das Problem ist aber, dass der Fluss jedes Jahr nach dem Monsun über die Ufer tritt. Trotzdem versuchen jetzt Spekulanten, die Grundstücke zu sichern, die noch der öffentlichen Hand gehören. Wir haben schon mehrfach illegale Immobiliengeschäfte aufgedeckt, die dann rückgängig gemacht werden mussten. Das Land am Fluss, mitten in Delhi, ist eine Goldgrube."

Erste Anfänge, Ufergrundstücke zu erschließen, gibt es bereits. Auf der Höhe des Roten Forts hat die Stadt den Golden Jubilee Park angelegt. Doch jedes Mal, wenn im Sommer der Monsun kommt, wird er überflutet und dabei in großen Teilen zerstört. Anschließend werden Arbeiter angeheuert, um ihn wieder herzurichten.

Jetzt planieren sie hier Flächen, auf denen später Rasen gesät und Blumenbeete angelegt werden sollen, erzählen die Arbeiter. Immer wieder müssen sie unterbrechen, weil der Fluss regelmäßig über die Ufer tritt.

Sie machen den Job, weil er gutes Geld bringt. Für sonderlich sinnvoll halten sie ihn nicht. Sie hätten hier viel Erfahrung mit Arbeiten an Staudämmen, erzählt der Vorarbeiter, aber die Fluten bekomme man bei Hochwasser nicht unter Kontrolle.

Ein einsamer Spaziergänger kommt vorbei. Er stellt sich als pensionierter Marineoffizier vor, der Sehnsucht nach Wasser hat.

Er komme hier jeden Tag her, erzählt der 55-Jährige, der seit 10 Jahren täglich 10 Kilometer am Flussufer entlangläuft. Manchmal müsse er auf die andere Seite ausweichen, wenn Hochwasser sei.

Er fände es schön, wenn eingedeicht würde, um den Park zu schützen. Neulich habe ihm jemand erzählt, es gäbe schon einen Geschäftsmann, der einige Hunderttausend Rupien investieren wolle, um Clubs oder Restaurants oder etwas in der Art zu eröffnen. Wenn das Wasser erst einmal geklärt sei, in drei, vier Jahren, hofft er, könne es hier richtig sauber und ordentlich aussehen.

Der Umweltschützer Ravi Agarwal dagegen will den Fluss nicht mit Deichen, Staudämmen und Schleusen gezähmt sehen. Die Yamuna, sagt er, braucht Auen und Überlaufflächen, in denen sie sich ausbreiten kann.

"Viel Kontrolle schafft zwar vielleicht nette Parks. Aber ich denke, der Fluss braucht auch Freiheiten. Sie müssen ihn nicht nur reinigen, sondern auch fließen lassen, sonst wird er nur ein Frischwasserkanal. Es ist nun mal seine Natur, dass er mehr mäandert als andere indische Flüsse."

Lange Zeit stand Ravi Agarwal weitgehend allein mit seiner Vorstellung, den heiligen Fluss wieder in seinen ursprünglichen Zustand zu versetzen. Jetzt aber hat sich eine Bürgerinitiative gebildet, Yamuna Katha, deutsch: die Geschichte Yamunas. Wasserbauingenieure und Sozialwissenschaftler gehören ihr an, ebenso wie Agrarexperten und Lehrer.

Alle wollen die alten Sagen und Mythen über die Yamuna wieder populär machen und Ideen für ihre Sanierung entwickeln. Lehrer der Balwharti-Oberschule, an der es einen Schwerpunkt Umwelterziehung gibt, haben in diesem Frühjahr mit ihren 10. Klassen eine Bootsfahrt auf der Yamuna unternommen und am Ufer Müll aufgesammelt. Viele der 16-Jährigen haben den Fluss bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal gesehen.

"Wir wollten wissen, ob er wirklich so dreckig ist, wie die Leute erzählen.

Es hat uns sehr geschockt, dass das die Wirklichkeit von Indien ist. Es hat uns dort gar nicht gefallen. Daran müssen wir etwas ändern, für die Zukunft ein besseres Indien schaffen.

Ich habe mit meinem Vater darüber gesprochen. Er sagt, die Regierung tut nichts. Die Regierung muss von den Leuten verlangen, dass sie nichts mehr in den Fluss schmeißen.

Wir sollten alle den Müll trennen und wiederverwerten, damit nicht mehr so viel Abfall in den Yamuna kommt. Und wir sollten Wasser sparen. Zu Hause fangen wir jetzt damit an."

Schuldirektor Alwie Sagal hofft, dass dieses Engagement Spuren hinterlassen wird. Die Schüler sind großartige Botschafter. Was sie gesehen und gelernt haben, erzählen sie Eltern, Verwandten und Freunden. So verbreitet sich das Wissen in der gesamten Gesellschaft. Sie haben nicht nur Informationen bekommen, sondern etwas erlebt, das war das Neuartige.