Die Welt und das Coronavirus

Keine Normalität, nirgends

30:08 Minuten
Das Baseball Stadion Tokyo Dome vor dem zwei Menschen mit Mundschutz laufen.
Ausnahmezustand statt Olympischer Spiele: In Japan ist die Situation bezüglich der Coronapandemie nach wie vor kritisch. © imago / Kyodo News
Von Johannes Nichelmann · 25.05.2020
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Japan, Italien, Österreich: In der Coronakrise versuchen inzwischen viele Länder den schrittweisen Exit aus dem Corona-Shutdown. Doch nach der anfänglichen Freude wird vielen Menschen klar: Bis zur Rückkehr in die Normalität ist es noch ein weiter Weg.
Das Frühjahr 2020 ist fast vorbei. Das Coronavirus hat die Welt noch immer fest im Griff:
Notverordnungen, Reproduktionszahlen, Abstandsregeln. Proppenvolle Demonstrationen hier, Massengräber dort. Ein Ende der Pandemie ist nicht in Sicht. Seit über zwei Monaten begleiten wir Menschen auf der ganzen Welt durch eine absurd wirkende Zeit.
In dieser Radiodokumentation erzählen sie von ihrem Leben inmitten der Pandemie, zwischen finanziellen Sorgen und Verschwörungsmythen. Es sind persönliche Momentaufnahmen.
Österreich, Ende März 2020. Ein Waldstück in der Nähe von Linz. Franziska, 25 Jahre alt, unternimmt einen Spaziergang. Allein. Denn sie steht unter Quarantäne. Bis vor ein paar Tagen war sie noch in ihrer Wahlheimat Großbritannien.

Das Feature ist der zweite Teil einer Langzeitbeobachtung, wie sich die Coronapandemie auf den Alltag in unterschiedlichen Ländern auswirkt. Den ersten Teil vom 23. März 2020 können Sie hier nachlesen und nachhören.

"Corona", "Covid-19", "SARS-Cov-2" wurden zu Chiffren für eine in Franziskas Leben noch nie dagewesene Ungewissheit.
"Ich habe gerade mit meinem Mitbewohner in England gesprochen", erzählt sie. "Der hat jetzt seit einigen Tagen Symptome: leicht erhöhte Temperatur, Husten, es fällt ihm schwer zu atmen. Er hat natürlich die Behörden verständigt und seinen Hausarzt auch, und der meinte, solange es ihm gut geht, bekommt er eben keinen Test. Jetzt ist die Frage, wie er die nächsten Tage überhaupt an Essen kommt, weil die ganzen Zustellservices schon ausgebucht sind. Ich habe ihm jetzt nur sagen können, dass ich noch fünf Pizzen in meinem Gefrierfach habe."
Hals über Kopf hat Franziska ihre Zelte in Großbritannien abgebrochen. Dort wurde es ihr zu unsicher. Während andere Länder bereits Grenzen schlossen und Kontaktsperren verhängten, sah die britische Regierung alles ein bisschen entspannter. Noch lag der Premierminister Boris Johnson nicht selbst auf der Intensivstation. In England hat Franziska seit sechs Monaten als Dozentin für Deutsch als Fremdsprache an einer Universität gearbeitet. Am 13. März beschließt sie also, das Nötigste in ein paar Taschen zu stopfen und einen Flug für den nächsten Tag von London nach Wien zu buchen. Noch ist das uneingeschränkt möglich.

Franziska (am Telefon): "Hallo?"
Reporter: "Passt es gerade oder bist du im Stress?"
Franziska: "Ja, nein! Ist okay. Ich packe gerade meine Sachen, aber passt schon."
Reporter: "Jetzt der letzte Abend auf unbestimmte Zeit in Großbritannien. Wie geht’s dir damit?"
Franziska: "Ich weiß eben nicht, ob und wann ich zum Beispiel meine Mitbewohner wiedersehe, meine Kollegen. Ich weiß auch nicht, wie das dann weitergeht mit dem Unterricht, also meinem Job. Ob es dann überhaupt noch einen Grund geben wird, dass ich wieder zurückkomme."

Die Angst vor dem Jobverlust ist nicht Franziskas einziges Problem. Sie hat in Österreich keine eigene Wohnung mehr – sie muss also in das Haus ihrer Eltern ziehen. Ihre Mutter und ihr Vater sind beide über 60 Jahre alt, gehören zur Risikogruppe. Unter keinen Umständen will Franziska ihre Eltern anstecken. Allein auf der Reise könnte sie sich das gefährliche Virus eingefangen haben.
Selfie von Franziska in Quarantäne.
Franziska in Quarantäne.© privat
Die Eltern aber sind bereit, das Risiko einzugehen. Sie holen ihre Tochter vom Flughafen in Wien ab. Umarmungen verbieten sie sich. Trotz der langen Zeit, die sie sich nicht gesehen haben.
Franziska trägt einen Schal vor ihrem Gesicht, ihre Eltern haben sich mit Skimasken vermummt. Mund- und Nasenschutzmasken sind Mangelware. An selbst nähen denkt noch kaum jemand.
"Hallo, Mama! Meine Temperatur ist in Ordnung. Ich wurde gerade getestet!", sagt Franziska. "Das Rote Kreuz steht da in voller Vermummung. Es ist wie im Krieg. So, passt jetzt mein Koffer rein? Du greifst da nichts an! Hallo, Papa! Bleib ja weg da!"
Franziska wird die Quarantäne in der obersten Etage des Einfamilienhauses verbringen. Obwohl alle unter einem Dach leben: Gespräche finden via Telefon statt.
Essen bekommt sie auf Papptellern vor die Tür gestellt. Ein neuer Alltag inmitten der Pandemie. Wie schnell kann solch ein Zustand zur Normalität werden? Wie wird sich die Isolation auf ihren Gemütszustand auswirken? Franziska wird ein Audiotagebuch führen…

Ein Paradies, das man nicht so richtig genießen kann

Isoliert sind auch Patricia Arnold und ihr Mann. Ohne Passierschein und triftigen Grund dürfen sie ihr Haus am Lago Maggiore im Norden Italiens nicht verlassen.
"Mein Garten ist ein wahres Paradies", sagt Patricia. "Hier blüht zurzeit alles. Kamelien, rot und weiß. Der Birnenbaum in voller Blüte. Eine Insel der Glückseligen. Aber so richtig genießen kann ich es nicht."
Patricia hat geschrieben, dass sie illegal durch die Gärten unterwegs gewesen sei.
"Ja, ich habe Kuchen gebacken und hab die Nachbarn mit Apfelkuchen versorgt. Die sind es zwar nicht gewöhnt, dass ich Kuchen backe, aber ich habe gestern Abend einfach beschlossen, ich muss mal Kuchen backen und dann die anderen mit versorgen. Denn ich habe Nachbarn, die leben alleine, und das ist, wenn man sozusagen im Hausarrest steht, nicht so."
Das erzählte Patricia Arnold ungefähr zwei Wochen, nachdem das alte Leben von einem Tag auf den anderen plötzlich verschwunden war. Schulen geschlossen, Kulturbetriebe dicht und Warteschlangen vor Supermärkten. Homeoffice und Jobverlust. Damals hatte sich Patricia Arnold geschworen, ihrem Alltag trotz allem eine Struktur zu geben. Täglich Sport treiben, mit Freunden und Bekannten telefonieren. Der Sport ist geblieben, die Ferngespräche sind wieder weniger geworden. Ende April sind wir erneut zu einem Gespräch verabredet:
"Eigentlich geht es mir ganz gut. So insgesamt. Aber ich muss sagen, die Energie schwindet langsam. Die Energie, dass man jeden Tag den Tag strukturiert. Dass man die gute Laune nicht verliert. Es gibt doch viele Momente hin zur Depression. Das dauert doch hier schon ziemlich lang, dass wir hier nicht raus dürfen oder nur ganz beschränkt, 200 Meter vom Haus entfernt."
Haben Sie mitgezählt, seit wie vielen Wochen dieser Zustand andauert?
"Ehrlich gesagt nicht. Sechs oder sieben Wochen. So viele müssen es jetzt ja wohl langsam sein. Dass ganz runtergefahren wurde hier in Italien, das war der 11. März. Es gibt auch hier Leute, die sich nicht dran halten. Aber ich habe nicht den Eindruck, dass das so ausgeprägt ist wie in Deutschland. Ich habe eher den Eindruck, dass die meisten nach wie vor wollen, dass das ... diszipliniert zu sein, dass das schnell vorbeigeht. Aber die Nerven sind angespannt und die Geduld ist sicherlich bald zu Ende. Man verliert auch ein bisschen das Gefühl für Zeit und Raum, muss ich sagen. Vor allem für die Zeit. Manchmal weiß ich nicht, ist jetzt Mittwoch, Donnerstag oder Freitag?"
Wie geht es Ihren Nachbarn, und haben Sie Ihnen noch einmal Apfelkuchen gebracht?
"Ja, ja, das hab ich schon häufiger gemacht. Auch gerade zu Ostern. Ich gebe auch ehrlich zu, wir haben uns auch einmal gegen die Regeln verhalten und haben zu Ostern auch einen Nachbarn eingeladen – zum Essen abends. Der alleine wohnt und auch nicht über die Straße gehen musste, um uns zu besuchen, sondern der konnte durch den Garten gehen, und wir haben es so gelegt, dass er noch bei Tageslicht zurückgehen kann. Eigentlich war das schön. Nur nicht so fröhlich wie sonst. Normalerweise wären wir in der großen Runde gesessen. Gerade Ostern ist bei uns ein großes Fest. Wir haben immer sehr viele Gäste, auch welche, die aus Deutschland kommen. Also dann denkt man doch, wann hat das denn mal ein Ende? Man sieht ja überhaupt kein Licht am Ende des Tunnels, und das ist schwierig zu ertragen, finde ich."
In ein paar Tagen soll es erste Lockerungen geben. Werden sie helfen, den Alltag erträglicher zu machen?

Japan: Keine Rückkehr zur Normalität

In Japans Hauptstadt Tokio scheint sich die Lage schon Mitte März zu entspannen. Yu, 23 Jahre alt, ist auf dem Weg zur Universität in seiner Heimatstadt. Den öffentlichen Nahverkehr hat er für gut zwei Wochen gemieden.
"Heute war ich zum ersten Mal seit ein paar Wochen morgens wieder unterwegs mit dem Zug. Da hatte ich das Gefühl, dass wieder mehr Leute zur Pendelzeit mit dem Zug fahren. Und in den Nachrichten ist auch zu hören, dass Schulausfälle aufgehoben werden sollen - dass zumindest die Diskussion darüber in der Regierung stattfindet. Diese Rückkehr der Normalität ist hier zu spüren. Japan steht ja vor den Olympischen, Paralympischen Spielen, und die Regierung möchte die Stimmung natürlich nicht kaputt machen. Da müssen wir als Bürger, glaube ich, auch ein bisschen kritisch hinterfragen."
Yu nimmt mit seinem Smartphone Videos von großen Menschenmassen auf, die sich über die breiten Straßen Tokios schieben. Aufnahmen aus einer Zeit, in der die Kirschblüten ihre Pracht entfalten und die olympischen Sommerspiele vor der Tür stehen. Doch das 13,4 Milliarden US-Dollar teure Event wird nach langem Hin und Her verschoben. Aus der Rückkehr in die Normalität wird nichts.
"Es ist bald Mitternacht, und ich nehme jetzt aber trotzdem auf", sagt Yu. "Also die Lage in Japan ist und bleibt kritisch. Die Infektionszahlen gehen hier weiter nach oben. Die Lage ist, ja, man kann es nicht anders sagen, sehr kritisch. Der Notstand wurde jetzt für ganz Japan ausgerufen. Das ist rechtlich nicht bindend, aber die Bürgerinnen und Bürger werden gebeten, zu Hause zu bleiben und nur für die nötigsten Zwecke rauszugehen. Neuerdings hat die Gouverneurin von Tokio auch darum gebeten, nur einmal in drei Tagen zum Supermarkt zu gehen. Also, ich bin jetzt seit vier Wochen nicht Zug gefahren. Kein einziges Mal. Das gab’s seit meiner Grundschulzeit bestimmt nicht mehr."
Selfie des in der U-Bahn in Tokio.
Seit vier Wochen ist Yu nicht mehr U-Bahn gefahren.© privat
Das kleine Haus, in dem Yu gemeinsam mit seinen Eltern, seiner 18-jährigen Schwester und seinem 14-jährigen Bruder im Süden Tokios lebt, ist jetzt Universität, Schule und privater Rückzugsort zugleich. Der Vater verlässt das Haus tagsüber für die Arbeit. Die Mutter ist Hausfrau. Das Abendessen kochen die Kinder heute gemeinsam. Grünkohl mit Rindfleisch, in der Pfanne angebraten.
"Jeder braucht ja so seine Zeit und seine Ruhe. Wenn man wirklich 24 Stunden mit seiner Familie in einem Haus ist, ist das manchmal nicht ganz so einfach. Vor allem in Japan, wo die Häuser ja bekanntlich relativ eng sind", sagt Yu.
"Mein Alltag besteht jetzt aus einem kleinen täglichen Spaziergang. Dazu das Studium, das diese Woche angefangen hat, komplett online, und das regelmäßige Einkaufen. Das sind wirklich die drei Dinge, die ich noch machen kann."
Er habe jetzt viel mehr Kontakt mit seinen Geschwistern, sagt Yu. "Spiele vor unserem Haus manchmal Badminton oder ein bisschen Fußball mit meinem Bruder. Mit meiner Schwester unterhalte ich mich viel öfter als vor der Krise. Also, es hat positive und negative Seiten."

Verschwörungsmythen haben überall Konjunktur

Yu und seine Mutter diskutieren viel über die aktuelle Situation. Dabei hat er auch bemerkt, dass sie sich mit Verschwörungsmythen beschäftigt. Sie fragt sich: Wurde das Virus womöglich in einem Labor gezüchtet und auf die Menschheit losgelassen? So, wie es auch der US-Präsident schon lautstark vermutet hat?
"Also meine Mutter liest zum Beispiel Artikel, wo drin steht, dass es sein könnte, dass es aus Wuhan kommt und dass das alles geplant ist", berichtet Yu. "Und wir diskutieren darüber, ob das stimmen kann. Meine Mutter sagt, dass man dieses Argument nicht ganz von sich weisen kann. Wogegen ich immer sage, also ich glaube das nicht. Meine Mutter meint, das könnte vielleicht sein. Aber ich spüre auch, dass sie verängstigt ist. Dass so viel unklar ist. Woher das kommt, wann das enden wird."
Es sind Mythen, die davon erzählen, dass entweder die Chinesen oder der US-Milliardär Bill Gates hinter alledem stecken. Dass die Schutzimpfung nur ein Vorwand sei, um sämtlichen Erdbewohnern Chips zu implantieren. Das Virus gäbe es eigentlich gar nicht. Dann sind da noch die von tiefem Antisemitismus geprägten Ideen einer sogenannten "Neuen Weltordnung". Das sind nur einige der vielen Verschwörungsgeschichten, die im Umlauf sind. Auch Patricia Arnold aus Italien hat in ihrem direkten Umfeld damit zu kämpfen:
"Was auch sehr erstaunt: Gerade meine Freundin, die Anwältin war, die sogar eine sehr, sehr erfolgreiche Anwältin war, hat im Augenblick auch die Neigung, diesen Verschwörungstheorien zu folgen. Also, die ist auch davon überzeugt, dass dahinter ein großer Komplott steht, und auch sie schickt mir per Whatsapp all diese Menschen, die ständig angeblich unter wissenschaftlichen Aspekten diese Verschwörungstheorien fördern. Das finde ich ganz erschreckend, ehrlich gesagt", so Patricia Arnold.
"Es ist vielleicht so eine Abwehr, eine Flucht. Aber als jemand, der sich sehr gut mit den Gesetzen auskennt, sieht sie natürlich auch, dass die Bürgerrechte im Augenblick mit Füßen getreten werden, und das stimmt ja auch. Diese Kritik wird hier immer lauter. Auch natürlich von Populisten. Also es müssen Bürgerrechte wieder eingesetzt werden, und mehr Freiheit muss da sein! Aber gleichzeitig ist ja die Angst da, dass dann dieses Virus Menschen weiter infiziert, dass wieder viele Menschen sterben, dass die Krankenhäuser, das Gesundheitssystem wieder überlastet sind und alles zusammenbricht. Ich meine, das ist auch keine tolle Aussicht, oder?"

In Japan demonstrieren sie online

Unmut regt sich auch in Japan. Aber Demonstrationen auf den Straßen gibt es so gut wie keine, sagt Yu. Allerdings umso mehr Kritik an der Regierung. Nicht zuletzt wegen des Debakels um die Olympischen Spiele. Zu lange seien wichtige Entscheidungen herausgeschoben worden. Bei nicht wenigen Menschen ist der Eindruck entstanden, die Regierung habe zugunsten der Veranstaltung die Gesundheit von Millionen von Menschen aufs Spiel gesetzt.
"'Normale' Menschen gehen jetzt nicht auf die Straße oder würden auch nicht darüber nachdenken, auf die Straße zu gehen. Deswegen gibt es offline keine großen Demonstrationen", erklärt Yu. "Das ist jetzt auch nicht erwünscht, wegen Corona. Aber es gibt ganz viele Online-Demonstrationen, also hauptsächlich auf Twitter gibt es sehr viele, so Hashtag-Demonstrationen, wo die Menschen von der Regierung fordern, dass sie endlich mal was tun, dass sie viel mehr Geld ausgeben. Ja, das gibt es."
Yu sucht nach so einen Tweet und liest ihn vor.
"Das war ein Tweet von einem Friseur. Diese Person schreibt, was soll man denn machen, um den Friseuren und Friseurinnen eine Stimme zu geben? Ich habe große Angst."
Es gibt in Japan eine offizielle Liste mit Berufsgruppen, die ihre Arbeit aufgrund der Krise niederlegen und gleichzeitig auf finanzielle Unterstützung hoffen dürfen. Friseurbetriebe stehen nicht auf dieser Liste. Der Tweet fordert, dies zu ändern.
"Die Friseure bekommen weniger Kunden, und das löst bei ihnen natürlich finanzielle Probleme aus", so Yu. "Zum Beispiel haben mein Bruder und ich uns letzte Woche gegenseitig die Haare geschnitten. Ich zum Beispiel bin seit über einem Monat nicht mehr zum Friseur gegangen."
In einem Friseursalon in Mailand markieren gelbe Streifen auf dem Fußboden den Sicherheitsabstand. Friseure und Kunden tragen Mundschutz.
Friseure haben wieder geöffnet, auch in Italien - doch die Sicherheitsvorkehrungen bleiben streng.© imago / Italy Photo Press
An einen Friseurbesuch ist auch für Franziska aus Österreich nicht zu denken.
Schließlich befindet sie sich inmitten einer zweiwöchigen Selbstisolation in ihrem Elternhaus. Kontakt zu ihrer Mutter und ihrem Vater im Erdgeschoss hält sie via Telefon oder durch Rufe aus ihrem Fenster.
"Hallo, das ist ein kurzes Quarantäne-Update", schreibt sie in ihrem Audio-Tagebuch. "Es ist jetzt tatsächlich schon Tag fünf in Selbstisolation bei meinen Eltern, und ich spaziere gerade durch den Garten. Alleine. Eigentlich sehr traurig, aber ich habe heute so die Hühner angesehen, wie sie so zusammengekuschelt in der Ecke saßen und dachte: Wow, die haben mehr sozialen Kontakt als ich zurzeit. Aber naja, das wird auch bald wieder besser sein, hoffe ich."
Zwei Tage später heißt es dort:
"Hallo, das ist jetzt Tag sieben, und, ja, heute Nacht ist mir etwas ganz Komisches passiert. Und zwar bin ich irgendwann aufgewacht, war mir erstens überhaupt nicht sicher, wo ich überhaupt bin, und zweitens waren da diese Gedanken von Pandemie und Virus in meinem Kopf, und ich konnte das irgendwie gar nicht zuordnen. Für mich war das irgendwie so wie ein Alptraum."
Und einen weiteren Tag später:
"Guten Tag, liebe Mama! Ich lass das Haar herunter!"
"Ja, also den achten Tag hab ich wohl auch überlebt in Selbstisolation."
"Hallo, ich bin gerade etwas spazieren, und, ja, heute ist der Quarantäne-Blues wieder da!"
"Ich habe jetzt eine Stelle gefunden im Wald, an der ich zu diesem kleinen Bachlauf gehen konnte. Hier ist es extrem friedlich und einfach wunderschön. Also, das hat jetzt meine Stimmung schon etwas aufgeheitert, obwohl ich immer noch Bedenken habe. Und zwar Bedenken darüber, ob ich meine Eltern dann am Tag 14 meiner selbstauferlegten Isolation wirklich umarmen sollte oder nicht. Ich habe Angst, dass ich eventuell eine von den Personen sein könnte, die zwar Covid-19-positiv ist, aber einfach absolut keine Symptome hat. Wer weiß, ob ich dann noch ansteckend bin? Also ganz ohne Test ist mir das irgendwie unangenehm. Vor allem haben meine Eltern heute schon gesagt, ja, sie freuen sich schon so auf nächsten Mittwoch. Dann können wir uns endlich umarmen, und das wird so toll, und alles ist super. Und ich freu mich natürlich auch, aber..."

"Jobs sind jetzt heiß begehrt"

Die Sache mit ihren Eltern ist nicht die einzige Sorge, die Franziska durch den Kopf geht und die ihre Albträume verursacht. Sie arbeitet als Dozentin für Deutsch als Fremdsprache an einer Universität im Norden Englands. Zurzeit unterrichtet sie über das Internet – wie lange kann das so gehen? Viele ihrer Freunde haben bereits Jobs in verschiedenen Branchen verloren.
"Das ist so fifty-fifty", sagt sie. "Tatsächlich sind viele in so einer Art Kurzarbeit. Einigen wurden eben davor gekündigt, die haben jetzt gar nichts, außer eben Arbeitslosengeld. Und einige arbeiten einfach von zu Hause."
Hat ihr die Universität signalisieren können, wie es mit Deinem Job weitergeht? Und welche Fragen stellt sie sich in diesem Zusammenhang?
"Ob ich überhaupt dann wieder rüber fliegen kann, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass die Grenzen so lange geschlossen bleiben. Könnte sein. Who knows? Aber es könnte ja auch sein, dass im nächsten Semester ja auch immer noch "online learning" der Standard ist. Ob ich dann in Österreich bin oder in England, ist dann egal. Das kommt und geht in Schüben. Ich mach mir natürlich schon Sorgen, weil… ja, also Jobs sind ja jetzt heiß begehrt."
Würden ihre Eltern sie wieder gehen lassen?
"Also meine Mama hat schon gesagt: ‘Uh, du brauchst da gar nicht mehr rüberfliegen. Nein, nein, nein.‘ Ja, also ungern. Ganz ehrlich, sie machen es ungern, ja."
Aber England – das ist der große Traum von Franziska. Und wie leicht Träume durch Corona zerplatzen, merkt Yu in Tokio, als er gemeinsam mit seinen Geschwistern Badminton spielt und das Mittagessen angebraust kommt:
"Wir haben heute zum Mittag eine Pizza bestellt, und der Pizzabote war ein ehemaliger Klassenkamerad von mir, der eigentlich in den USA sein sollte. Ich war sehr überrascht, und er war auch sehr überrascht, aber er hat mir erzählt, dass er wegen dieser Coronasache nach Japan zurückkommen musste und dass er seit einer Woche dort für diesen Pizza-Laden arbeitet und eben Pizzen mit dem Motorrad liefert."
Schon in der Grundschule sei der ehemalige Klassenkamerad ein herausragender Fußballspieler gewesen. In den USA habe er die Chance gehabt, in die Profiwelt des Sports aufzusteigen. Was nun wird? Er wisse es nicht. Das Gespräch zwischen den beiden dauerte nur wenige Augenblicke – denn die nächsten warteten schon auf ihre Pizza.
"Das hat mich sehr traurig gemacht, dass er seinen Traum sozusagen jetzt erst einmal aufgeben musste und hierher zurückgehen musste. Ich darf auch nicht vergessen, dass ich zu den Privilegierten gehöre und es sehr viele andere Menschen gibt, die darunter ja auch leiden."

Zarte Öffnungsversuche in Italien

Seit Anfang Mai gibt es in Italien einige Lockerungen. Ausflüge innerhalb der näheren Umgebung sind für Patricia Arnold wieder erlaubt. Es sind zarte Öffnungsversuche eines Landes, das in Europa die Statistik der Todeszahlen lange angeführt hat. Wenngleich es auch hier Regionen gibt, in denen die Ansteckungsraten nur gering sind.
"Wir dürfen innerhalb der Region rumfahren", sagt Patricia Arnold. "Ich meine, was soll man einfach nur rumfahren, um zu wandern? Man darf jetzt auch nur zu zweit wandern. Aber auch nicht mit jedem, sondern auch nur mit einem Partner, mit dem man in einer stabilen Beziehung lebt. Also nicht mit jedem Freund oder Bekannten oder Freundin. So viel Freiheit ist das nicht. Aber immerhin, man kann aus dem Haus gehen! Samstag habe ich mich zum ersten Mal so mit einer Bekannten getroffen.
Wir beide wissen gar nicht, ob das eigentlich erlaubt war oder nicht. Jedenfalls auf ihrem Balkon, also draußen. Das war interessant. Wir haben uns so anderthalb Stunden unterhalten – über dies und das und jenes, und ich war nach anderthalb Stunden total erschöpft. Da hab ich zu ihr gesagt, so, tut mir leid, ich muss jetzt wieder gehen, ich bin einfach total erschöpft. Da sagt sie: Ich auch! Das sind wir einfach nicht mehr gewöhnt, weil wir wirklich jetzt sechs oder acht Wochen lang nur mit unseren Partner gesprochen haben, telefoniert haben mit Freunden und Verwandten, sie auch nicht gesehen haben. Dann ist man doch entwöhnt, und das strengt dann an."
Patricia Arnold arbeitet als Journalistin, lebt seit 20 Jahren in Italien. Sie hat ein sehr geschultes Auge und beobachtet ihre Umgebung genau. Auf ihren wenigen Wegen durch ihre Ortschaft begegnet sie immer wieder älteren Menschen, die sie dann auch an düsteren Gedanken teilhaben lassen:
"Wenn man ältere Leute sieht, wirklich so über siebzig, achtzig, ich glaube, für die ist das Leben weitgehend zu Ende. Die werden ja auch alle ganz schräg angeschaut. Die jungen Leute, viele jungen Leute sagen ja auch, warum sollen wir uns einschränken wegen der älteren Leute? Das finde ich ganz traurig. Ich habe eine Freundin in München erlebt, die mir erzählt hat, wie in ihrem Haus, in München, in dem sie lebt, die Nachbarn gesagt haben: Wieso müssen wir uns einschränken für die älteren Leute?", sagt sie.
"Also ich kann jetzt von älteren Menschen, die hier leben, sprechen, die wirklich das Gefühl haben, ihr Leben ist jetzt zu Ende. Sie wollten alle noch andere Dinge machen, die sie jetzt nicht machen können. Viele gehen ja davon aus hier, dass es mindestens zwei bis drei Jahre dauert, bis sich alles normalisiert hat. Diese Zahl finde ich auch lang, ehrlich gesagt. Zwei bis drei Jahre finde ich auch furchtbar."

Ein Ende der Ungewissheit ist nicht in Sicht

"Was mich leider auch ein bisschen beunruhigt ist, dass es hier in der Nähe von uns in einem Altersheim einen positiven Fall des Coronavirus gibt", sagt Franziska. "Ich mache mir jetzt große Sorgen um diese Bewohner. Ich kenne zwar jetzt direkt keinen, aber natürlich haben viele meiner Freunde Großeltern, die dort wohnen und, ja, die Wahrscheinlichkeit, dass es sich in so einem Altersheim verbreitet, ist natürlich hoch, und deswegen, ja, bin ich halt einfach ein bisschen besorgt."
Neben all den Sorgen gibt es auch die besseren Momente. Es ist soweit: Nach zwei Wochen Quarantäne kommt es für Franziska und ihre Eltern nun zum echten Wiedersehen nach dem "unechten" Wiedersehen am Flughafen. Als sie sich nicht berühren durften und die Angst vor Ansteckung riesig war. Jetzt also ohne Schal und ohne Ski-Maske. Aber normal fühlt sich das hier für die Familie auch nicht an.

Franziska: "Ja, guten Morgen"
Mutter: "Guten Morgen"
Franziska: "Mei, is das schee!"
Vater: "Hä? Die kennen mir ja!"
Franziska: "Ja, guten Morgen!"

"Also ich bin dann einfach so ins Erdgeschoss und habe halt so gesagt: 'Guten Morgen!' und hab mich dann einfach an den Tisch gesetzt. Wir haben uns auch nicht umarmt. Das hat sich dann irgendwie komisch angefühlt. Wir haben das dann ignoriert, quasi, und meine Mama hat dann noch erwähnt, ob ich mich doch bitte vielleicht einen Meter weiter weg setzen kann. Das war dann irgendwie etwas komisch. Ich hab's dann gemacht, aber das haben wir dann auch nur ein-, zweimal gemacht, und dann haben wir es eh vergessen. Aber nachdem es mir eh gut geht, ja, also, das war dann irgendwie noch so der letzte …, wie sagt man, die letzte Unsicherheit!"
Franziska und ihren Eltern sind gesund. Aus alten Stoffresten nähen sie viele Mund- und Nasenschutzmasken. Verschicken sie an Freunde. Der erkrankte Mitbewohner aus England hat sich gemeldet. Es gehe ihm wieder gut. Ob es wirklich Corona war, wisse er nicht. Diese Zeit der Ungewissheit wird noch lange dauern.

Autor, Regie und technische Realisierung: Johannes Nichelmann
Redaktion: Carsten Burtke

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