Die Welt in Flakons
Cool, erregend, hintergründig: Die Personen in Helle Helles neuem Roman leben wie in einer Blase, völlig isoliert. Die Autorin entwirft dabei Szenen, in denen nichts geschieht - und sich doch viel ereignet.
Die dänische Autorin Helle Helle wurde 1965 in Rødby auf Lolland geboren. In "Rødby – Puttgarden", ihrem zweiten, auf Deutsch veröffentlichten Roman (nach "Haus und Heim", 2001), schildert sie das eintönige Leben einiger Personen aus ihrem Geburtsort. Im Mittelpunkt stehen zwei Schwestern, Tine und Jane.
Es ist schon verblüffend, mit welch reduzierten Mitteln diese dänische Autorin größte Effekte erzielt. In Dänemark wurde sie 1996 durch Kurzgeschichten bekannt, die an Raymond Carver und Kjell Askildsen geschult waren. Vor knapp zehn Jahren erschien mit "Haus und Heim" ihr erster Roman auf Deutsch. Es ist die Geschichte einer 30-jährigen Frau, die ein Haus einrichten will, das nie zum Heim wird. Schon in diesem Buch fiel der minimalistische Realismus auf, der nur das Notwendigste sagt und vieles verrät.
Auch in dem nun vorliegenden Roman, der zum großen Teil in Rødbyhavn spielt, in dem die Fähre aus Puttgarden anlegt, geschieht im Grunde nichts. Die Halbschwestern Tine und die vier Jahre jüngere Jane sind Alltagsfiguren wie alle anderen Personen auch. Die Ereignisse des Romans stoßen ihnen eher zu. Einmal fährt Jane mit einem Elektriker nach Hamburg, im Wohnheim wohnt ein Kollege im Nebenzimmer, den sie auch mag und küsst, und von Hamburg sieht sie nichts.
Tine hat Jane, die vor kurzem ihr Abi gemacht hat, einen Job in der Parfümerie auf der Fähre verschafft. Von einem durchreisenden Isländer hat Tine ein Töchterchen, auf das Frau Lund aufpasst. Die Schwestern sind bei ihrer Mutter aufgewachsen, die viel zu früh starb, Väter gibt es keine, Großväter auch nicht. Überhaupt spielen Männer keine Rolle. Sie zählen nicht. Gefühle sind in diesem Buch schlicht unvorstellbar. Und doch sind sie da.
Die Personen, besonders aber die Ich-Erzählerin und Eigenbrödlerin Jane, leben wie in einer Blase, völlig isoliert. Geräusche dringen zu ihnen, das Meer "hinter der Sparkasse", das Sausen "von der Autobahn", Stimmen "aus einem der Häuser", näher kommt ihnen die Welt nicht. Und sie selbst wollen nicht hin zu ihr: "In Wahrheit träumte ich davon, für den Rest meines Lebens zu Hause zu sitzen", sagt Jane. Die Parfümflakons mit den vielversprechenden Namen "Paris", "Arpège", "Kenzo" sind Welt genug. Der Vorwurf gegen die Mutter – "du hast nichts ausprobiert" – wird schnell zurückgenommen, man will ja selber nichts wagen. Dass doch etwas nicht stimmt, äußert sich in zuckenden Mundwinkeln oder, etwas drastischer, in scheinbar grundlosem Zittern und Weinen.
Helle Helles Romane erinnern an den Nouveau Roman: die detaillierten Beschreibungen, die Abwesenheit von Psychologie und ein beinahe kalter Blick auf das Geschehen zeugen davon. Uns selbst lässt ihr Roman überhaupt nicht kalt. Zu packend lässt sie die "Sprache des Schweigens" erklingen, zu dramatisch die Szenen vibrieren, in denen nichts geschieht und sich vieles ereignet. – Diesen coolen, erregenden, hintergründigen Roman hat die junge Flora Fink sehr talentiert, sehr selbstbewusst übersetzt.
Besprochen von Peter Urban-Halle
Helle Helle: Rødby – Puttgarden
Aus dem Dänischen von Flora Fink
Dörlemann Verlag, Zürich 2010
285 Seiten, 19,90 Euro
Es ist schon verblüffend, mit welch reduzierten Mitteln diese dänische Autorin größte Effekte erzielt. In Dänemark wurde sie 1996 durch Kurzgeschichten bekannt, die an Raymond Carver und Kjell Askildsen geschult waren. Vor knapp zehn Jahren erschien mit "Haus und Heim" ihr erster Roman auf Deutsch. Es ist die Geschichte einer 30-jährigen Frau, die ein Haus einrichten will, das nie zum Heim wird. Schon in diesem Buch fiel der minimalistische Realismus auf, der nur das Notwendigste sagt und vieles verrät.
Auch in dem nun vorliegenden Roman, der zum großen Teil in Rødbyhavn spielt, in dem die Fähre aus Puttgarden anlegt, geschieht im Grunde nichts. Die Halbschwestern Tine und die vier Jahre jüngere Jane sind Alltagsfiguren wie alle anderen Personen auch. Die Ereignisse des Romans stoßen ihnen eher zu. Einmal fährt Jane mit einem Elektriker nach Hamburg, im Wohnheim wohnt ein Kollege im Nebenzimmer, den sie auch mag und küsst, und von Hamburg sieht sie nichts.
Tine hat Jane, die vor kurzem ihr Abi gemacht hat, einen Job in der Parfümerie auf der Fähre verschafft. Von einem durchreisenden Isländer hat Tine ein Töchterchen, auf das Frau Lund aufpasst. Die Schwestern sind bei ihrer Mutter aufgewachsen, die viel zu früh starb, Väter gibt es keine, Großväter auch nicht. Überhaupt spielen Männer keine Rolle. Sie zählen nicht. Gefühle sind in diesem Buch schlicht unvorstellbar. Und doch sind sie da.
Die Personen, besonders aber die Ich-Erzählerin und Eigenbrödlerin Jane, leben wie in einer Blase, völlig isoliert. Geräusche dringen zu ihnen, das Meer "hinter der Sparkasse", das Sausen "von der Autobahn", Stimmen "aus einem der Häuser", näher kommt ihnen die Welt nicht. Und sie selbst wollen nicht hin zu ihr: "In Wahrheit träumte ich davon, für den Rest meines Lebens zu Hause zu sitzen", sagt Jane. Die Parfümflakons mit den vielversprechenden Namen "Paris", "Arpège", "Kenzo" sind Welt genug. Der Vorwurf gegen die Mutter – "du hast nichts ausprobiert" – wird schnell zurückgenommen, man will ja selber nichts wagen. Dass doch etwas nicht stimmt, äußert sich in zuckenden Mundwinkeln oder, etwas drastischer, in scheinbar grundlosem Zittern und Weinen.
Helle Helles Romane erinnern an den Nouveau Roman: die detaillierten Beschreibungen, die Abwesenheit von Psychologie und ein beinahe kalter Blick auf das Geschehen zeugen davon. Uns selbst lässt ihr Roman überhaupt nicht kalt. Zu packend lässt sie die "Sprache des Schweigens" erklingen, zu dramatisch die Szenen vibrieren, in denen nichts geschieht und sich vieles ereignet. – Diesen coolen, erregenden, hintergründigen Roman hat die junge Flora Fink sehr talentiert, sehr selbstbewusst übersetzt.
Besprochen von Peter Urban-Halle
Helle Helle: Rødby – Puttgarden
Aus dem Dänischen von Flora Fink
Dörlemann Verlag, Zürich 2010
285 Seiten, 19,90 Euro