Die Welt aus der Sicht eines Wolfes

Ein junger Autor, ein erstes Buch und ein eigentlich unmögliches Konzept: Der 30-jährige Brite Joseph Karol Smith schreibt eine 160-seitige Etüde über Stärke, Einsamkeit, Furcht und Tod – aus der Sicht eines Wolfes.
Es ist ein richtiger Wolf, ein Tier, das durch den winterlichen Wald zieht, getrieben vom Hunger, auf der Suche nach Beute. Smith hat also den „einsamen Wolf“ aus der Metapher geholt und als Ich-Erzähler in die Mitte seiner Novelle gestellt; ein Wolf, begabt mit einem hohen Maß an Abstraktionsfähigkeit und Empfindsamkeit, ein Mörder und Jäger, der sich selbst kommentierend in den Untergang begleitet.

So etwas kann eigentlich nicht funktionieren. Und es funktioniert auch nicht, jedenfalls nicht als Tiergeschichte, auch nicht als naturphilosophische Abhandlung, und schon gar nicht als Synthese aus beidem. Was Smith hier unternimmt, ist spekulativ, ist ein Versuch, eine Etüde über die Möglichkeiten der Literatur, die ja immer auch darin besteht, dass mit den Köpfen anderer Menschen, Tiere oder Götter gedacht wird.

Dieser Versuch ist insofern sehr gelungen, als Smith die wölfische Erlebniswelt vor seinen Lesern als grausam schönen Wald der Wunder entfaltet: Der Schnee, die Bäume, die Sonne, die Kälte werden hier mit ehrfürchtiger Selbstverständlichkeit betrachtet, durchdacht, gefühlt. Und noch eindrucksvoller sind Smiths Schilderungen von der Jagd, vom Kampf zwischen Räuber und Beute, von der Verständigung der beiden Tiere miteinander, von ihrem Verhältnis zum Töten und Getötetwerden.

Aber es ist unwahrscheinlich, um das Mindeste zu sagen, dass Wölfe sich über ihre eigene Sterblichkeit Gedanken machen, wenn sie einen Hasen reißen, und dass sie verletzten Stolz und Herrschsucht zur Grundlage ihrer Entscheidung machen, wen sie nun fressen und wen nicht. Im zoologischen Sinne plausibel ist dieses Buch also nicht, aber da es ganz offenkundig nicht geschrieben hatte, um der Zoologie neue Erkenntnisse hinzuzufügen, macht das gar nichts.

Störend ist allenfalls, dass der Autor seinem Wolf später einen Fuchs und einen Schwan als Nebenfiguren an die Seite stellt, womit die klassische Tierfabel zitiert und eine Erzählung in Gang gesetzt wird, die dieses kleine Buch eher belastet als trägt. Die sinnliche Schönheit der einzigartigen Wolfswelt hätte eine solche erzählerische Erklärung nicht nötig gehabt.

Besprochen von Katharina Döbler

Joseph Karol Smith, Der Wolf
Aus dem Englischen von Frank Heibert,
Berlin Verlag, Berlin 2009, 160 Seiten, 18,00 Euro