Die weibliche Art des Erinnerns

22.03.2007
Christina von Braun, Filmemacherin, Kulturwissenschaftlerin und Genderforscherin, hat eine sehr persönliche Familienbiographie geschrieben. Im Mittelpunkt stehen die Großmütter und die Mutter der Biographin, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihr Glück auf ganz verschiedenen Wegen suchten. Das Buch zeigt eine spezifisch weibliche Art des Erinnerns: die Erinnerungskette der "Stillen Post".
"Stille Post" – so heißt das Kinderspiel, bei dem eine Botschaft von Ohr zu Ohr geflüstert wird; jeder versteht das Gesagte ein bisschen anders, und schließlich, am Ende der Kette, ist die Nachricht nicht mehr die, die sie am Anfang war.

So ähnlich, schreibt die Biographin Christina von Braun, verhalte es sich mit dem Familiengedächtnis. Neben den offiziellen Fakten, die oft von Männern in Memoiren festgehalten werden, gebe es auch eine unbewusste, eine eher weibliche Erinnerungskette. Und mit dieser werden die "unsagbaren Botschaften", die "unerledigten Dossiers des Lebens" von Generation zu Generation weitergegeben.

Diese "Stille Post" nimmt ihren Weg über Missverständnisse, Assoziationen und vor allem über das Schweigen, erklärt Christina von Braun. So hat sie ihre Großmutter mütterlicherseits Hildegard Margis (1887-1944) nie kennen gelernt. Und ihre Mutter Hilde hat kaum über sie gesprochen. Und doch sind viele Botschaften bei der Enkelin angekommen: etwa das Interesse am Jüdischen, an der Frauenbewegung der 1920er Jahre und der Genderforschung.

Im Mittelpunkt der Familienbiographie Christina von Brauns stehen folglich die Frauen, vor allem Hildegard Margis. Voller Stolz und Bewunderung berichtet die Autorin, wie ihre Großmutter innerhalb kurzer Zeit ein erfolgreiches Unternehmen aufbaute und zu den bestverdienenden und bekanntesten Frauen Berlins aufstieg. Dabei hatte Hildegard Margis am Ende des 1. Weltkriegs verwitwet und mit zwei kleinen Kindern zunächst am Rande des Existenzminimums gelebt. Doch dann gründete die Lehrerin eine Zeitschrift für Verbraucherinformationen und wenig später den "Hauswirtschaftlichen Einkaufs-, Beratungs- und Auskunftsdienst" (Heibaudi), ein Vorläufer der heutigen Verbraucherzentralen.

In den Beschreibungen Christina von Brauns erscheint sie als ausgebuffte Geschäftsfrau, die sich für ihre Hausfrauentipps von den konkurrierenden Industriezweigen gleichzeitig bezahlen ließ und dabei abwechselnd alles empfahl. Dass das letztlich wenig mit Verbraucherberatung zu tun hatte, nimmt Christina von Braun kritiklos hin.

Die an dieser Stelle fehlende Distanz der Biographin ist aber im Grunde die Stärke des Buches. "Stille Post" ist eine beinahe intime Familienbiographie. Das wird besonders an der ungewöhnlichen Form deutlich: Als roter Faden ziehen sich persönliche Briefe durch das Buch, die Christina von Braun an ihre Großmutter schreibt. Darin kommentiert sie bestimmte Ereignisse, stellt ihrer Großmutter kritische Fragen und erzählt vor allem viel über sich selbst – über das, was bei ihr von der "Stillen Post" angekommen ist. Der Wechsel zwischen der flüssig erzählten Biographie und den Briefen funktioniert gut, auch wenn Christina von Braun die beiden Textebenen nicht konsequent auseinander hält.

Schließlich berichtet die Biographin vom Widerstand ihrer Großmutter gegen das Nazi-Regime und ihrem Tod in einem Polizeigefängnis 1944. Dann legt sie den Fokus auf zwei andere Frauen: ihre Mutter Hilde und die Großmutter väterlicherseits, Emmy von Braun. Sie montiert die Nachkriegs-Tagebücher der beiden zu einer spannenden, kontrastreichen Parallelgeschichte: Während Hilde von Braun mit ihrem Mann gegen Ende des 2. Weltkriegs im Vatikan ein wahrhaft paradiesisches Asyl fand, erlitt Emmy von Braun das Schicksal der Vertreibung von ihrem Gut in Niederschlesien.

Durch die langen Originalzitate erreicht Christina von Braun auch in diesem Teil des Buches eine große persönliche Nähe – und gleichzeitig eine starke Authentizität. Im Falle ihrer Mutter Hilde, die im Vatikan zwei Kinder zur Welt brachte und sich in einen Geistlichen verliebte, gerät die Auswahl manchmal etwas zu anekdotenhaft.

Anders bei Emmy von Braun. Ihre Tagebucheinträge machen nicht nur die Schrecken von Plünderungen und Gewalt deutlich, wie es viele nachträglich geschriebene Memoiren auch tun. Durch die Unmittelbarkeit des Tagebuchs, dadurch, dass Emmy von Braun beim Schreiben selbst nicht wusste, welchen Lauf die Geschichte nehmen würde, wird ihre über ein Jahr dauernde Zukunfts-Ungewissheit nahezu fühlbar. Abgeschnitten von allen Nachrichtenkanälen änderten sich die Gerüchte täglich: Mal hieß es, die Polen müssten gehen, dann wieder, die Deutschen.

Es ist tatsächlich so: Die Männer der Familie kommen in Christina von Brauns Biographie nur am Rande vor. Und das, obwohl auch über sie viel zu erzählen wäre: über Magnus von Braun etwa, Christina von Brauns Großvater väterlicherseits, erster Pressechef in der Reichskanzlei der Weimarer Republik. Oder über seinen Sohn Wernher von Braun - den Onkel der Biographin –, der für die Nazis die Großraketen V1 und V2 entwickelte, die auf London und Antwerpen geschossen wurden.

Aber das macht gar nichts – über diese Männer wurde und wird viel geschrieben, worauf Christina von Braun auch verweist. Über die Geschichte der Frauen der Familie hingegen war bisher wenig zu erfahren. Dabei ist es eine Geschichte, die Privates und Historisch-Politisches auf äußerst spannende Weise vereint. – Und so ist Christina von Brauns Buch zu Recht für den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Sachbuch/Essayistik nominiert.


Rezensiert von Marcus Weber

Christina von Braun: Stille Post. Eine andere Familiengeschichte
Propyläen Verlag, Berlin 2007
415 Seiten, 22 Euro