Die "Wassereimer-Schule"

Von Walter Bohnacker |
Aus der Not mit Englands Regenwetter machte er einer seine Tugend: der Maler William Turner. Beim Freiluftmalen nahm er sich schließlich sogar Wasser mit ins Feld. Eimer gehörten bei ihm zur Grundausrüstung.
Zeitgenössische Kritiker amüsierten sich über die englische Freiluftmalerei des frühen neunzehnten Jahrhunderts als eine so genannte "Buckets of Water School". Die Vertreter dieser "Wassereimer-Schule", so hieß es, das waren die Amateure, die glaubten, sie müssten ihre Kunst unbedingt den Launen des Klimas abtrotzen.

Mit Malkasten und Staffelei zogen diese "Spinner" bei Sonnenschein los auf die Wiese oder an die Küste. Und dann? Dunkle Sturmwolken zogen auf – und schon fing es an zu schütten, wie aus Eimern.

Aus der Not mit Englands Regenwetter machte einer seine Tugend: William Turner. Turner, so berichtet ein Malerfreund, zog selbst mit Wasser ins Feld. Eimer gehörten bei ihm zur Grundausrüstung.

Oft zeichnete er verschiedene Motive gleichzeitig. Die Skizzen tauchte er in den Kübel, und anschließend trug er die Grundfarben auf das nasse Papier auf, ließ sie verschwimmen und dann trocknen. Den Vorgang wiederholte er, bis sich die erhoffte Wirkung einstellte – die typische "Turner-Atmosphäre".

Die Schau in der Tate Modern zeigt eine Reihe dieser Stimmungsbilder Turners: Landschafts- und Farbstudien aus der Zeit um 1830 – "A Stormy Sky", "Storm Clouds", "Blue and Yellow" – und eines seiner Meisterwerke, entstanden 1842, "The Blue Rigi", eine Ansicht des Rigi-Massivs am Luzerner See.

Öl ist der Rohstoff großer Kunst und das Medium der Profis; nur Anfänger, Hobbymaler und Stümper malen mit Wasser. Das ist das eine alte, hartnäckige Vorurteil, gegen das die Ausstellung antritt – mit Turner als prominentestem Gegenbeweis, einem unter vielen.

Das andere Missverständnis, das hier korrigiert wird, ist das von der Aquarellmalerei als einer genuin britischen Besonderheit, mit der Spanne von 1750 bis 1850 als deren "Goldenes Zeitalter".

Das Aquarell, privat und subjektiv, individuell und eigenwillig, so ganz nach dem Geschmack des Inselvolks, diskret und urdemokratisch, eine englische Erfindung? Mitnichten, meint Kuratorin Alison Smith:

"Der Gedanke geht zurück auf die Epoche der Napoleo nischen Kriege, als Britannien isoliert und Maler nicht mehr auf den Kontinent reisen konnten. Turner und andere wurden damals zu Wegbereitern einer Maltechnik, die sie nicht neu erfanden, sondern die sie für sich wiederentdeckten, da sie ihren ästhetischen Vorstellungen von farblicher Fluidität und Transparenz am nächsten kam. Nur wurde diese Ästhetik später als originär englisch international vermarktet."

Mit Turner erlebte die englische Landschaftsmalerei vor knapp 200 Jahren einen ihrer Höhepunkte. Und die Liste der englischen Meister des Aquarells unter seinen Zeitgenossen ist lang: Thomas Girtin, John Sell Cotman, William Callow, William Blake und natürlich John Constable.

Hartnäckig verweigerte die Royal Academy den Wasserfarben-Enthusiasten lange Anerkennung und Mitgliedschaft in ihrem Zirkel. Der Popularität der Maltechnik tat dies freilich keinen Abbruch. Die Förderung der Aquarellmalerei übernahmen Gesellschaften wie die "Royal Watercolour Society", gegründet 1804, und ab 1831 das "Royal Institute of Painters in Water Colours".

Doch wann genau kam die Aquarellkunst auf die Insel? Als früheste Belege präsentiert die Tate Modern Leihgaben aus der British Library: illuminierte Pergamenthandschriften aus dem zwölften, Heiligenbiografien und Gebetsbücher aus dem fünfzehnten und Landkarten aus dem sechzehnten Jahrhundert.

Von der Dekoration und Illumination entwickelt sich die Aquarellkunst im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert zum Medium der Illustration und Wissenschaft. In der Abteilung "The Natural World" präsentiert die Ausstellung die, wenn man so will, Vorläufer der Mikroskopie und Fotografie: Gouachen, Litografien und kolorierte Zeichnungen, allesamt Höchstleistungen der naturkundlichen Dokumentation mit so vollendeten wie detailgenauen Darstellungen aus der Tier- und Pflanzenwelt, angefertigt von Expeditions-künstlern, Botanikern und professionellen Blumenmalern, unter ihnen der Österreicher Franz Andreas Bauer.

Die Gegenwartskunst beschließt die Schau. In den Abteilungen "Watercolour Today: Inner Vision" und "Abstraction and Improvisation" erweisen sich Künstler wie Howard Hodgkin, Anish Kapoor, Peter Doig und Tracey Emin als Erben und Interpreten dessen, was William Turner auch in seiner Aquarellmalerei ange-stoßen hatte: die Entwicklung des Mediums über die mimetische Darstellungsform hinaus zur impressionistisch verdichtenden, ätherischen Abstraktion.

An die Stelle des äußeren Spektakels tritt bei den Aquarellisten unserer Tage der Blick nach innen. Emins zart hingehauchte Reminiszenz an ein in der Badewanne verbrachtes Wochenende in Berlin – "Berlin Last Week in April 1998" – ist pure Kontemplation. Und Kapoors Gouache auf Papier ist reine Oberfläche, die Farbe verweist nur auf sich selbst: das Medium ist die Botschaft.

800 Jahre in Anführungszeichen "englische" Aquarellkunst in ihrer ganzen Bandbreite: Als Bestandsaufnahme und Hommage an eine alte Tradition ist diese Schau bestens organisiert und bestens zu empfehlen. Nur warum kommt sie erst jetzt? Alison Smith:

"Aquarelle auf Papier werden nur ungern ausgeliehen. Die Institutionen sind da sehr vorsichtig. Außerdem: Heute dreht sich alles um die großen ‚Blockbuster‘-Ausstellungen. Da hat das bescheidene Aquarell kaum Chancen. Wasserfarben sind eben keine Sensation."