Die Waldorfschule und ihr Klischee

"Es hat sich vieles geändert"

08:22 Minuten
In einer Kölner Waldorfschule liegen die Kinder im Kreis - sie tragen rote Zipfelmützen
Epochenunterricht, Selbstbestimmung und den Namen tanzen: Kinder in einer Kölner Waldorfschule. © Deutschlandradio / Monika Dittrich
Christian Füller im Gespräch mit Dieter Kassel · 06.09.2019
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Ihr eilt der Ruf einer elitären Schule für Gutverdienerkinder voraus. Dabei war die erste Waldorfschule vor 100 Jahren für Arbeiterkinder gedacht. Bildungsexperte Christian Füller sagt: Auch andere Waldorf-Klischees seien nicht mehr aktuell.
Sie gelten als elitäre Schulen für Kinder aus dem Bildungsbürgertum und fallen meist im Stadtbild durch eine charakteristische Architektur auf. Und natürlich fällt jedem sofort ein: Da lernen die Kinder ihren Namen zu tanzen. Und sie haben keine Fächer, sondern Epochen.

Werkschule für Arbeiterkinder

Was aber kaum jemand weiß: Die erste Waldorfschule war eine Werkschule für Arbeiterkinder, eingerichtet von der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik in Stuttgart. Die beauftragte vor hundert Jahren den Anthroposophen Rudolf Steiner, für die Kinder der Fabrikarbeiter eine Schule zu konzipieren.
Was ist heutzutage von den Waldorfschulen zu halten? Sind sie fortschrittlich? Oder eher weltfremde Einrichtungen, die Computer und Digitalisierung im Unterricht verteufeln?
Der Bildungsjournalist Christian Füller hat zahlreiche Bücher zum Thema Schulbildung geschrieben und sich auch intensiv mit den Waldorfschulen beschäftigt. Er sagt: "Es hat sich vieles geändert. Es gibt schon seit vielen Jahren eine interkulturelle Waldorfschule in Mannheim. Es gibt jetzt auch eine kleinere Kopie in Berlin. Da kommen Sie rein und kommen gar nicht auf die Idee, dass das eine Schule für die weiße Mittelklasse ist."

Schule für Besserverdiener? Stimmt so nicht

Auch das Vorurteil, dass Waldorfschulen teuer sind und dadurch Kinder von Geringverdienern ausschließen, stimme so pauschal nicht. Wer etwa arbeitslos werde und das monatliche Schulgeld nicht zahlen könne, für den werde eine Lösung gefunden.
Rudolf Steiner hatte seinerzeit die große Bedeutung der Klassenlehrer hervorgehoben. Auch heute noch sei die Bedeutung der Lehrer ungebrochen, sagt Füller: "In der Waldorfschule repräsentiert der Lehrer sozusagen die Welt für die Schüler, und er hat wirklich eine große und wichtige Rolle."
Allerdings würden die Lehrer heute "den Steiner nicht mehr so inhalieren, dass sie alles bis zum Letzten machen". Die Bindekraft von Steiner sei viel geringer als früher, die Schulen distanzierten sich mittlerweile auch in einigen Bereichen von seinen Lehren – vor allem von den rassistischen Tendenzen. Und mittlerweile gebe es auch an Waldorfschulen Lehrermangel, so dass die Schulen sich verschiedenen Lehrertypen öffnen müssten.

Die Schüler können selbst entscheiden

Allgemein sprächen die Waldorfschulen heute auch viele Eltern an, die keine speziellen "Waldorfeltern" seien, sondern für ihre Kinder "keine reine Leistungsschule" und mehr freie Entfaltungsmöglichkeiten wollten, betont Füller.
Selbst der berühmte Epochenunterricht sei, auf heutige Verhältnisse übertragen, als Projektunterricht interpretierbar, "wo man eben nicht alle 45 Minuten das Klassenzimmer oder das Fach wechselt, sondern sich wirklich in einem langen Projekt mit bestimmten Dingen befasst und wo die Schüler auch viel selbst entscheiden können".
Waldorfschulen seien heute auch keine Gegner der Digitalisierung mehr, so Füller: "Aber sie sagen: Bevor wir einen Digitalpakt machen, brauchen wir einen Analogpakt, sodass die Grundschüler zunächst mal lesen und schreiben lernen. Und zwar sehr gründlich."
(mkn)

Christian Füller: "Muss mein Kind aufs Gymnasium? Bildungserfolg ohne Druck"
Duden Verlag, 2018
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Christian Füller: "Ausweg Privatschulen? Was sie besser können, woran sie scheitern
"
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273 Seiten, 16 Euro

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