"Die Wahrheit ist konkret!"

Von Ulrich Fischer · 28.07.2010
Stefan Zweigs Novelle "Angst" spielt in Wien vor dem 1. Weltkrieg. Irene ist mit einem Rechtsanwalt verheiratet. Die junge Frau langweilt sich in ihrer Ehe und geht ein erotisches Abenteuer mit einem Pianisten ein. Die Handlung setzt ein, als sie von einer Frau, die von ihrem Fehltritt weiß, bedroht wird; sie erpresst sie. Wenn Irene nicht zahlt, könnte ihr Mann von ihrem Ehebruch erfahren.
Irenes Angst steigert sich in dem Maß, in dem die Erpresserin ihre Forderungen erhöht. Endlich weiß Irene nicht weiter und besorgt sich Gift. Sie will sich töten.

Da erfolgt der überraschende Umschlag, typisch für die Novellenform: Ihr Mann hält sie zurück. Er hatte von ihrem Verhältnis erfahren, Irene die ganze Zeit beobachtet und die Erpresserin, eine Schauspielerin, beauftragt, Irene unter Druck zu setzen.

Koen Tachelet, ein langjähriger Mitarbeiter von Johan Simons, dem designierten Intendanten der Münchner Kammerspiele, hat Zweigs Novelle für die Bühne erarbeitet; seine Fassung wurde am Mittwoch im Rahmen der Salzburger Festspiele in Salzburgs Landestheater uraufgeführt. Tachelet hält sich einerseits an Zweigs Fabel: der Ehebruch, die Erpressung, das überraschende Ende, andererseits löst Tachelet sich von Zweig. Er reißt die Geschichte völlig willkürlich aus ihrem konkreten Zusammenhang heraus, sie spielt nicht mehr im Wien um 1900, sondern hier und heute.

Damit trifft Tachelet Zweigs Meisternovelle im Kern. Sie ist realistisch, Zweig bezeichnet genau, warum Irene Angst hat. Sie fürchtet den Statusverlust. Ihr Mann könnte sich scheiden lassen, sie würde von ihrer Schicht, dem Bürgertum, als Schuldige gemieden, ausgestoßen und könnte keinen Beruf ergreifen, weil sie als Mädchen ja nichts gelernt hat.

Das ist 100 Jahre später anders - im Zeitalter von Angela Merkel. Die Frau eines Rechtsanwalts wäre heute vielleicht selbst Juristin oder Medizinerin, Lehrerin. Auf jeden Fall wäre sie finanziell unabhängig: Selbst wenn sie keinen Beruf hätte oder keine Stelle fände, ihr Mann müsste ihr, wollte er sich scheiden lassen, Unterhalt zahlen. Oder sie bekäme staatliche Hilfe. Und als Schande gilt ein Schritt vom Wege heute nicht mehr, sie verlöre keine Freunde. Die abgrundtiefe Angst, die Irene vor hundert Jahren empfand, hätte bei ihrer Ururenkelin von heute keinen Grund mehr.

Leider gelingt es Regisseur Jossi Wieler nicht, den Grundfehler Tachelets auszubügeln. Auch er weicht der konkreten Verwurzelung in der Zeit aus, die Zweigs Meisterschaft ausmachte: die sozial grundierte Psychologie, und lässt seine Uraufführungsinszenierung in unserer Gegenwart spielen. Ausstatterin Anja Rabes trägt ihr Gutteil am Scheitern der Übertragung der Novelle auf die Bühne bei: die Kostüme wirken heutig, im Bühnenbild durchdringen sich Außen und Innen wechselseitig, eine Abstraktion, die der Konkretion Zweigs, die seine Geschichte so glaubhaft macht, ausweicht. Brecht hatte schon recht, als er notierte: "Die Wahrheit ist konkret!"

Elsie de Brauw spielt statt Irene eine Frau von heute, zudem kommentiert sie die Rolle, die sie verkörpert, aus Autorensicht - deshalb kann sie nicht glaubhaft machen, dass sie eine namenlose Angst befällt. Welches Mädchen wurde vor einer Generation so erzogen, dass sie wähnte, ein Seitensprung sei der Ursprung untilgbarer Schuld? Hat die sexuelle Revolution von Wieler unbemerkt stattgefunden? Das Verhältnis zwischen den Geschlechtern ist heute nicht so angstbelastet, wie - aus guten Gründen - vor hundert Jahren noch, als Frauen von Männern abhängig waren, nicht nur wirtschaftlich.

Die Inszenierung ist so verfehlt, weil alle Beteiligten: vom Bearbeiter bis zum Schauspieler, den historischen Fortschritt übersehen, der doch so unübersehbar in den letzten hundert Jahren stattgefunden hat: die Emanzipation der Frau. Irene, lebte sie nicht vor hundert Jahren in Wien, könnte heute wählen, gewählt werden, studieren, Bundeskanzlerin werden und sich in der Zweigstelle ihrer Stadtbibliothek Freuds Werke ausleihen, um sich über die Grundlagen der Psychoanalyse zu informieren.

Stefan Zweig wollte mit seinen Novellen die Errungenschaften von Freuds Seelenkunde, verfugt mit Erkenntnissen über das Soziale, bekannt machen, um eben jene unwürdige Stellung der Frau vor hundert Jahren zu überwinden. Es gehört zu seinem Ruhm, dass er zum gesellschaftlichen Fortschritt, zur Überwindung dieser Art "Angst", die er so meisterlich beschrieb und analysierte, beigetragen hat. Das haben die Künstler in Salzburg übersehen.

Wie ist es denn nur möglich?