Die wahre Vielfalt des Alltags

Von Anette Schneider · 28.02.2013
Der Titel "Kunstausstellung", den Hans-Peter Feldmann seiner Retrospektive verlieh, ist eine Untertreibung. Denn Feldmann präsentiert in den Hamburger Deichtorhallen Arbeiten aus über 40 Jahren: Fotosammlungen, Fundstücke und Installationen, mit denen er die Realität verzaubert und in etwas Poetisches verwandelt.
Hans-Peter Feldmann ist ein leidenschaftlicher Sammler. In den 60er-Jahren begann er zum Beispiel Fotos zu sammeln. Bis heute schneidet er gern Bilder von Frauen aus Zeitungen und Illustrierten aus. Manchmal knipst er sie auch selber. Danach fügt er sie zu Serien zusammen und hängt sie an die Wand. Wie jetzt in der Deichtorhalle. Und weil die sehr groß ist, hängt da sehr viel: Serien von Frauen. Postkartenserien vom Eiffelturm. Fotos von Brotscheiben, Langspielplatten, Waschmaschinen und Erdbeeren.

Da Hans-Peter Feldmann seine Arbeiten weder betitelt, mit Jahreszahlen versieht, noch signiert, und da er ungern Interviews gibt, weiß Deichtorhallenleiter Dirk Luckow, was das soll:

"Sich mit der Kunst auf den Alltag zuzubewegen, würde ich sagen. Es sind ja alles ganz unspektakuläre Dinge, die er da zusammenträgt. Und durch Kleinigkeiten verändert er dann diese Vorgaben, so dass sie dann in den Rang von doch etwas ganz Außergewöhnlichem geraten. Und das, ja, verzaubert dann auch schon mal die Realität, verwandelt sie in etwas Poetisches."

Zum Beispiel, weil man sieht, dass die Erdbeeren zwar alle rot sind, aber doch nicht alle gleich aussehen. Auch die Brotscheiben unterscheiden sich voneinander. Und die Frauen. Und die Langspielplatten sowieso. Wer also eben noch das Leben für ein träge dahinfließendes, graues Einerlei hielt, erkennt vor Feldmanns Arbeiten dessen wahre Vielfalt!

"Die Dinge werden eigentlich in der Serie viel klarer, weil man differenzieren kann, man kann vergleichen. Man kann das Gleiche im Unterschiedlichen und das Unterschiedliche im Gleichen erkennen."

Aus Nippes wird Kunst

Hans-Peter Feldmann sammelt auch Nippes. In den 80er-Jahren, als er mal keine Lust mehr auf Kunst hatte, führte er in Düsseldorf einen Souvenirladen. Nun arrangiert er Nippes und Fundstücke auf sich drehenden Holzscheiben - kleine Spielzeugfiguren aus Plastik, Stofftiere, Flaschenbürsten, Spielzeughäuser. Angestrahlt von Scheinwerfern, führen sie an einer Wand Schattentänze auf.

"Man weiß dann gar nicht mehr: Was ist jetzt Materialsammlung, was ist Fakt, was ist Konstruktion, was ist konstruiert. - Auch: 'Ist das jetzt meine Erfahrung, mit der ich da konfrontiert werde, oder ist das die von Hans-Peter Feldmann?' So schlägt er immer eine Brücke zwischen dem, was er erfahren hat, und was ihn berührt hat, und dem, was vielleicht auch in meinem Kopf herumspukt an Sehnsüchten, an Wünschen."

Apropos Wünsche: Obwohl Hans-Peter Feldmann schon so lange sammelt und schon so viel hat, trieb ihn eine Sache immer noch um: Handtaschen von Frauen. Und was in denen so drin steckt. Also sprach er ein paar Frauen an, und kaufte ihnen ihre Handtaschen ab. Fünf davon liegen nun in Vitrinen, inklusive Inhalt. Damit enthüllt Hans-Peter Feldmann eines der letzten großen Mysterien der Menschheit.

Eine der größten Lügen des 19. Jahrhunderts entlarvt er auch noch: Das Bürgertum war gar nicht so brav, wie es immer behauptete. Und deshalb versieht Feldmann einige Biedermeier-Porträts vermeintlich braver Damen und Herren mit roten Nasen oder blauen Augen.

In etwa genauso groß ist der Erkenntniswert seiner Serie zu 9/11: Da zeigt er circa 60 Zeitungstitel vom Tag danach. Und - Überraschung! - weltweit machten die Blätter mit Fotos des Anschlags auf!

Dirk Luckow: "Es wird sozusagen zur Ikone, während man die Sprache gar nicht versteht. Er stellt sozusagen das Bildhafte über das Schriftliche, dass man eben mit dem Auge sofort ganz schnell die Dinge versteht. ... Deswegen gibt er ja auch so ungerne Interviews, weil er sagt, die Antworten hängen ja schon alle an der Wand. ... Und das ist auch so, man kann hier alles verstehen. Es gibt kein Werk, das so verschlüsselt wäre, dass man da unbedingt die Erklärung zu braucht."

Aber müssen die Arbeiten deswegen so schlicht daherkommen? Viele wirken, als renne hier einer permanent offene Türen ein: Wissen wir nicht alle um die Macht der Bilder? Oder dass sich im vermeintlich grauen Alltag viel mehr entdecken lässt, als auf den flüchtigen Blick zu sehen ist?

"Er sagt ja auch, es geht ihm nicht um diese fünf oder zehn Minuten des Tages, wo etwas Besonderes passiert. Sondern die anderen 23 Stunden und 50 Minuten, da wo vermeintlich nichts passiert, darum geht es. Die zu veranschaulichen. Unseren Blick, unsere Aufmerksamkeit auf sie zu legen. Das interessiert ihn."

So, als sei alles in Ordnung

Nur: Auf was lenkt er eigentlich den Blick? Welche Vorstellung von Alltag - und damit von gesellschaftlicher Wirklichkeit - steckt dahinter? Alles, was einen Tag gemeinhin ausfüllt, fehlt: Arbeit, Arbeitsbedingungen, Stress, Alltagssorgen, Armut, Protest - nichts davon kommt vor. Feldmanns Werk ist frei von jeglicher Reibung, Einmischung, Verunsicherung, Provokation. Vermutlich ist es genau das, was ihn seit kurzem so erfolgreich macht: Je stärker die gesellschaftlichen Verhältnisse aus den Fugen geraten, umso wichtiger werden Menschen, die, wie Dirk Luckow es eingangs formulierte, die "Realität verzaubern" und in etwas "Poetisches" verwandeln - so, als sei alles in Ordnung.

Hans-Peter Feldmann: "Kunstausstellung"
Deichtorhallen Hamburg
1. März bis 2. Juni 2013