Die wahre Größe der großen Koalition
Der gängigen Lehre zufolge sind große Koalitionen zwar arm an Ideologie, aber reich an Durchsetzungskraft. Denn sie verfügen über die Mehrheiten, die erforderlich sind, die großen Reformen, den Umbau der föderalen Strukturen, des Gesundheits- und des Steuersystems, ins Werk zu setzen.
"Unsere Zukunft und die unserer Kinder steht auf dem Spiel. Millionen von Menschen sind arbeitslos, viele seit Jahren. Die Haushalte des Bundes und der Länder sind in einer nie da gewesenen, kritischen Lage. Die bestehende föderale Ordnung ist überholt. Wir haben zu wenige Kinder, und wir werden immer älter. Und wir müssen uns im weltweiten, scharfen Wettbewerb behaupten."
Man mag diese Lageeinschätzung für übertrieben halten, doch ohne sie gäbe es die jetzige Bundesregierung nicht. Mit diesen Worten hat der Bundespräsident vor einem Jahr die Situation Deutschlands charakterisiert, um Neuwahlen herbeizuführen. Horst Köhlers Einschätzung hat damals kaum einer widersprochen. Nun allerdings steht er damit – um es zeitgemäß zu formulieren - im Abseits. Ein Mann der augenscheinlich zu weit vorgeprescht ist, ohne dass die Seinen mit ihm Schritt hielten. Wer ins Abseits gerät, hat zwar Ergeiz gezeigt, aber einen Fehler gemacht. Der Bundespräsident ist plötzlich nur noch ein Spieler unter vielen. Der Besserwisserei wird er bezichtigt. Ein Urteil, das zumindest die Frage aufwirft, wer es denn tatsächlich besser weiß.
Deutschland, so begründete er seinerzeit die Neuwahl, stehe vor gewaltigen Aufgaben und die Bundesregierung sei auf die Unterstützung durch eine verlässliche, handlungsfähige Mehrheit angewiesen. Eine verlässliche Mehrheit hat die neue Bundesregierung, als wesentlich handlungsfähiger hat sie sich deshalb nicht unbedingt erwiesen.
Der gängigen Lehre zufolge sind große Koalitionen zwar arm an Ideologie, aber reich an Durchsetzungskraft. Denn sie verfügen über die Mehrheiten, die erforderlich sind, die großen Reformen, den Umbau der föderalen Strukturen, des Gesundheits- und des Steuersystems, ins Werk zu setzen.
Nun, die Föderalismusreform hat die Große Koalition erstmal in den Sand gesetzt und die gängige Lehre über große Koalition ließe sich um zumindest eine Formel ergänzen. Sie neigen aus Gründen der inneren Arithmetik zu hyperkomplexen Ergebnissen.
Zwar gelang die umfangreichste Änderung der Verfassung seit deren Verabschiedung. Doch sind die Strukturen danach noch immer voller Verflechtungsfallen und durchsetzt mit dem Geist der Kleinstaaterei - als hätte es nie einen Pisa-Schock gegeben, als wären einzelne Länder nicht längst an die Grenze ihrer finanziellen Lebensfähigkeit gestoßen. Das lässt wenig Gutes für die Reform der föderalen Finanzstruktur erwarten. Wie sagte Horst Köhler doch vor einem Jahr: "Die Zukunft unserer Kinder steht auf dem Spiel" und "die bestehende föderale Ordnung ist überholt". Wohl dem Politiker aus Union und SPD, der es besser weiß.
Man muss nun nicht allein die Worte des Bundespräsidenten zur Elle nehmen, um die Verschiebung in der politischen Tektonik zu erkennen. Unterlegt man die Politik der großen Koalition mit der Folie rot- grünen Leitbilder, so erkennt man geradezu paradoxe Brüche und verblüffende Kontinuitäten. Während die Grünen mit dem Antidiskriminierungsgesetz am Koalitionspartner scheiterten, wird es nun von einer Union in Kraft gesetzt, die es seinerzeit noch heftig bekämpfte. Die Familienpolitik von Renate Schmidt wird unter Federführung der CDU noch gesteigert - unter Preisgabe ihres ehezentrierten Familienbildes. Auch in der Migrantenpolitik ist zwar ein Stabs- aber kein Richtungswechsel zu erkennen ist.
Waren über lange Jahre Steuersenkungen ein Markenzeichen rot-grüner, nachhaltiger Haushaltspolitik, so steht die schwarz-rote Ära deutlich im Zeichen von Steuererhöhungen. Das Ideal des schlanken Staates, dem einst bis zur fiskalpolitischen Magersucht gefrönt wurde, hat erkennbar an Attraktivität verloren. Hingegen gelten flächendeckende Lohnsubventionen schon längst nicht mehr als arbeitsmarktpolitischer Sündenfall.
Man kann in all dem die Schwierigkeiten der beiden Regierungspartner erkennen, eine Politik zu formulieren, die sich mit der jeweiligen Traditionslinie zu einer nach vorne offenen Erzählung verknüpfen lässt. Dieses Sich- nicht- wieder- erkennen ist der Quell all der internen Querelen, die inzwischen zum schlechten Markenzeichen der Großen Koalition geworden sind.
Dieser selbstverschuldeten Malaise zugrunde liegt die dritte gängige Lehre über Große Koalitionen: Dass sie ein Zweckbündnis zweier antagonistischer Blöcke sei, deren Zusammensein alleinig durch ein geschicktes Geben und Nehmen lebbar gemacht werden kann. Diese Lehre kommt derzeit bei der Gesundheitsreform formvollendet zur Anwendung. Sie wurde zu Zeiten der ersten Großen Koalition in den sechziger Jahren entwickelt, als die Blöcke noch ideologisch und sozial klar formatiert und beide Parteien tatsächlich Volksparteien waren.
Die heutige große Koalition kommt jedoch unter dem Vorzeichen volatiler Wählerschaften und einer zunehmenden programmatischen Konvergenz nicht umhin, ihre Politik mit einer eigenen schwarz-roten Erzählung zu unterlegen. Es muss nicht die Utopie von Horst Köhler sein. Doch will die große Koalition nicht nur Bestand sondern auch Erfolg haben, muss sie größer sein als die Schnittmenge ihrer beiden Teile. Bringen Merkel und Müntefering diese Größe nicht auf, so werden sie zusammen in den Umfragen bald ganz klein dastehen.
Dieter Rulff, Journalist, Jahrgang 1953, studierte Politikwissenschaft in Berlin und arbeitete zunächst in der Heroinberatung in Berlin. Danach wurde er freier Journalist und arbeitete im Hörfunk. Weitere Stationen waren die "taz" und die Ressortleitung Innenpolitik bei der Hamburger "Woche". Vom März 2002 bis Ende 2005 arbeitete Rulff als freier Journalist in Berlin. Er schreibt für überregionale Zeitungen und die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte. Seit 1. Januar 2006 Redakteur der Zeitschrift "Vorgänge".
Man mag diese Lageeinschätzung für übertrieben halten, doch ohne sie gäbe es die jetzige Bundesregierung nicht. Mit diesen Worten hat der Bundespräsident vor einem Jahr die Situation Deutschlands charakterisiert, um Neuwahlen herbeizuführen. Horst Köhlers Einschätzung hat damals kaum einer widersprochen. Nun allerdings steht er damit – um es zeitgemäß zu formulieren - im Abseits. Ein Mann der augenscheinlich zu weit vorgeprescht ist, ohne dass die Seinen mit ihm Schritt hielten. Wer ins Abseits gerät, hat zwar Ergeiz gezeigt, aber einen Fehler gemacht. Der Bundespräsident ist plötzlich nur noch ein Spieler unter vielen. Der Besserwisserei wird er bezichtigt. Ein Urteil, das zumindest die Frage aufwirft, wer es denn tatsächlich besser weiß.
Deutschland, so begründete er seinerzeit die Neuwahl, stehe vor gewaltigen Aufgaben und die Bundesregierung sei auf die Unterstützung durch eine verlässliche, handlungsfähige Mehrheit angewiesen. Eine verlässliche Mehrheit hat die neue Bundesregierung, als wesentlich handlungsfähiger hat sie sich deshalb nicht unbedingt erwiesen.
Der gängigen Lehre zufolge sind große Koalitionen zwar arm an Ideologie, aber reich an Durchsetzungskraft. Denn sie verfügen über die Mehrheiten, die erforderlich sind, die großen Reformen, den Umbau der föderalen Strukturen, des Gesundheits- und des Steuersystems, ins Werk zu setzen.
Nun, die Föderalismusreform hat die Große Koalition erstmal in den Sand gesetzt und die gängige Lehre über große Koalition ließe sich um zumindest eine Formel ergänzen. Sie neigen aus Gründen der inneren Arithmetik zu hyperkomplexen Ergebnissen.
Zwar gelang die umfangreichste Änderung der Verfassung seit deren Verabschiedung. Doch sind die Strukturen danach noch immer voller Verflechtungsfallen und durchsetzt mit dem Geist der Kleinstaaterei - als hätte es nie einen Pisa-Schock gegeben, als wären einzelne Länder nicht längst an die Grenze ihrer finanziellen Lebensfähigkeit gestoßen. Das lässt wenig Gutes für die Reform der föderalen Finanzstruktur erwarten. Wie sagte Horst Köhler doch vor einem Jahr: "Die Zukunft unserer Kinder steht auf dem Spiel" und "die bestehende föderale Ordnung ist überholt". Wohl dem Politiker aus Union und SPD, der es besser weiß.
Man muss nun nicht allein die Worte des Bundespräsidenten zur Elle nehmen, um die Verschiebung in der politischen Tektonik zu erkennen. Unterlegt man die Politik der großen Koalition mit der Folie rot- grünen Leitbilder, so erkennt man geradezu paradoxe Brüche und verblüffende Kontinuitäten. Während die Grünen mit dem Antidiskriminierungsgesetz am Koalitionspartner scheiterten, wird es nun von einer Union in Kraft gesetzt, die es seinerzeit noch heftig bekämpfte. Die Familienpolitik von Renate Schmidt wird unter Federführung der CDU noch gesteigert - unter Preisgabe ihres ehezentrierten Familienbildes. Auch in der Migrantenpolitik ist zwar ein Stabs- aber kein Richtungswechsel zu erkennen ist.
Waren über lange Jahre Steuersenkungen ein Markenzeichen rot-grüner, nachhaltiger Haushaltspolitik, so steht die schwarz-rote Ära deutlich im Zeichen von Steuererhöhungen. Das Ideal des schlanken Staates, dem einst bis zur fiskalpolitischen Magersucht gefrönt wurde, hat erkennbar an Attraktivität verloren. Hingegen gelten flächendeckende Lohnsubventionen schon längst nicht mehr als arbeitsmarktpolitischer Sündenfall.
Man kann in all dem die Schwierigkeiten der beiden Regierungspartner erkennen, eine Politik zu formulieren, die sich mit der jeweiligen Traditionslinie zu einer nach vorne offenen Erzählung verknüpfen lässt. Dieses Sich- nicht- wieder- erkennen ist der Quell all der internen Querelen, die inzwischen zum schlechten Markenzeichen der Großen Koalition geworden sind.
Dieser selbstverschuldeten Malaise zugrunde liegt die dritte gängige Lehre über Große Koalitionen: Dass sie ein Zweckbündnis zweier antagonistischer Blöcke sei, deren Zusammensein alleinig durch ein geschicktes Geben und Nehmen lebbar gemacht werden kann. Diese Lehre kommt derzeit bei der Gesundheitsreform formvollendet zur Anwendung. Sie wurde zu Zeiten der ersten Großen Koalition in den sechziger Jahren entwickelt, als die Blöcke noch ideologisch und sozial klar formatiert und beide Parteien tatsächlich Volksparteien waren.
Die heutige große Koalition kommt jedoch unter dem Vorzeichen volatiler Wählerschaften und einer zunehmenden programmatischen Konvergenz nicht umhin, ihre Politik mit einer eigenen schwarz-roten Erzählung zu unterlegen. Es muss nicht die Utopie von Horst Köhler sein. Doch will die große Koalition nicht nur Bestand sondern auch Erfolg haben, muss sie größer sein als die Schnittmenge ihrer beiden Teile. Bringen Merkel und Müntefering diese Größe nicht auf, so werden sie zusammen in den Umfragen bald ganz klein dastehen.
Dieter Rulff, Journalist, Jahrgang 1953, studierte Politikwissenschaft in Berlin und arbeitete zunächst in der Heroinberatung in Berlin. Danach wurde er freier Journalist und arbeitete im Hörfunk. Weitere Stationen waren die "taz" und die Ressortleitung Innenpolitik bei der Hamburger "Woche". Vom März 2002 bis Ende 2005 arbeitete Rulff als freier Journalist in Berlin. Er schreibt für überregionale Zeitungen und die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte. Seit 1. Januar 2006 Redakteur der Zeitschrift "Vorgänge".