Die vorsorgende SPD

Von Dieter Rulff |
Den Winter über hat der deutsche Sozialstaat vor sich hingedämmert. Doch plötzlich erfuhr das Wort unerwarteten Ruhm durch Matthias Platzeck. Sein Nachfolger im Amt des SPD-Vorsitzenden, Kurt Beck, hat den Begriff übernommen und in der gleichen vagen Inhaltsleere belassen.
Den ganzen Winter über hat der deutsche Sozialstaat knapp oberhalb der Wahrnehmungsgrenze vor sich hingedämmert. Erst Anfang April registrierte das Projekt Deutscher Wortschatz an der Universität Leipzig, zu dessen Obliegenheiten die permanente Überwachung des Sprachnutzungsverhaltens der deutschen Bevölkerung gehört, einen jähen Aufschwung des Wortes.

Der Sozialstaat wurde plötzlich von so vielen in den Mund genommen und in so vielen Medien erwähnt, dass ihn die Sprachwissenschaftler am 10. April zum Wort des Tages kürten. Diesen unerwarteten Ruhm hat der Sozialstaat dem seinerzeitigen Vorsitzenden der SPD Matthias Platzeck zu verdanken. Der hat ihn nämlich einen vorsorgenden genannt und als solchen der Programmdebatte seiner Partei als Leitbild vorangestellt. Gleichzeitig ist Platzeck an diesem 10. April von seinem Posten zurückgetreten. Und so wird wohl, wenn die SPD an diesem Leitbild festhält, der "vorsorgende Sozialstaat" das herausragendste Ereignis bleiben, das sich mit der kurzen Ära des SPD-Vorsitzenden Platzeck verbindet.

Sein Nachfolger im Amt Kurt Beck hat den Begriff übernommen und in der gleichen vagen Inhaltsleere belassen, in der Platzeck dessen Konturen vorgezeichnet hat. Diese Zurückhaltung mag einen Eindruck davon vermitteln, was die SPD von ihrem neuen Vorsitzenden erwarten kann. Schon bisher hat sich Beck in innerparteilichen Auseinandersetzungen kaum exponiert.

Er ist kein Programmatiker, der Begriffe prägt, kein Polemiker, der Kontroversen zuspitzt. Der Pfälzer ist ein Macher, er weiß, wie man Weinfeste und Mehrheiten organisiert. Ihm sind Rebläuse vertrauter als Heuschrecken. Er geht gerne auf Tuchfühlung, doch ist er schwer greifbar, deshalb auch schwer angreifbar. Vor allem aber ist er einer der wenigen in der SPD, die noch Wahlen gewinnen können. Nicht nur deshalb ist er auf absehbare Zeit ohne Alternative.

Das lässt sich hingegen vom vorsorgenden Sozialstaat nicht sagen. Das neue Leitbild muss sich erstmal in der SPD gegen eine ganze Reihe lieb gewonnener Werte durchsetzen – und gegen das Misstrauen, dass mit ihm lediglich die verfemte Schrödersche Agendapolitik der Neuen Mitte in einen neuen Schlauch gegossen wird. Dieses Misstrauen ist berechtigt, denn vieles, was Platzeck und Beck dem alten nachsorgenden Sozialstaat ankreiden, hatte bereits Schröder gegeißelt.

Das Zuviel an Transferleistungen, die Fehlanreize bei der Arbeitslosen- und Sozialhilfe, die mangelhafte Bildung des Humankapitals. Und es war bereits Schröder und nicht erst Platzeck, der den aktivierenden und vorsorgenden Sozialstaat zum Leitbild erhoben hat. Das ist keine drei Jahre her. Das Bundeskabinett hat dieses Leitbild seinerzeit dem Nationalen Aktionsplan zur Bekämpfung der Armut und sozialen Ausgrenzung vorangestellt. Das programmatische Rad der SPD muss also nicht vollends neu erfunden werden. Ein Blick in diesen Aktionsplan dürfte der Partei vielmehr einige Schwierigkeiten ihres Unterfangens deutlich machen.

Sozialen Ausschluss und Armut, auf die der vorsorgende Sozialstaat ja neue Antworten geben soll, kennen viele Gründe und tauchen in verschiedenen Formen auf. Entsprechend vielfältig sind die Mittel ihrer Bekämpfung und entsprechend zahlreich sind die Instanzen, die dabei gefragt sind. Nicht immer steht der Staat an erster Stelle. Diese Vielfalt lässt sich nur schwer in einen organisatorischen Rahmen pressen und noch schwerer auf einen programmatischen Nenner bringen. Auch ein vorsorgender Sozialstaat kann nicht gegen jede Widrigkeit versichern, er muss die Begrenztheit seines Tuns und die darin liegenden Ungerechtigkeiten anerkennen.

Vor allem aber kann er nur dann die Menschen für sich einnehmen, wenn seine Maßnahmen sie tatsächlich in die Lage versetzen, am gesellschaftlichen Leben besser teilzunehmen.

Dieses Leben ist um Arbeit zentriert. Über sie im ausreichenden Maße zu verfügen, entscheidet über Integration und Aufstieg, Teilhabe oder Ausschluss.

Mittlerweile ist nur noch für 39 Prozent der Gesellschaftsmitglieder die Berufstätigkeit die wichtigste Erwerbsquelle. Die übrigen sind in mehr oder minder starkem Umfang auf Transferzahlungen angewiesen. Die Bedeutung der Erwerbstätigkeit wird nach Ansicht von Arbeitsmarktexperten in absehbarer Zeit noch viel schneller abnehmen als das bislang schon der Fall war.

Doch ein Sozialstaat, der vorsorgend für den Arbeitsmarkt aktivieren und qualifizieren soll, ist darauf angewiesen, dass es eine entsprechende Nachfrage gibt. Die SPD will, so hat ihr Vize-Vorsitzende Wolfgang Thierse erst dieser Tage wieder betont, am Ziel der Vollbeschäftigung festhalten. Wenn sie aber in ihrem Programm keine Antwort darauf geben kann, wie dieses Ziel erreicht werden soll, wird aus dem vorsorgenden sehr schnell wieder ein nachsorgender Sozialstaat werden. Und das dürfte dann vor allem diejenigen in die Bredouille bringen, die schon jetzt vorsorgend Steuererhöhungen das Wort reden.


Dieter Rulff, Journalist, Jahrgang 1953, studierte Politikwissenschaft in Berlin und arbeitete zunächst in der Heroinberatung in Berlin. Danach wurde er freier Journalist und arbeitete im Hörfunk. Weitere Stationen waren die taz und die Ressortleitung Innenpolitik bei der Hamburger ‚Woche.’ Vom März 2002 bis Ende 2005 arbeitete Rulff als freier Journalist in Berlin. Er schreibt für überregionale Zeitungen und die Neue Gesellschaft/ Frankfurter Hefte. Ab 1. Januar 2006 Redakteur der Zeitschrift "Vorgänge".