Die vom Ende her denken

Von Rolf Schneider · 12.12.2005
Es gibt Irrtümer, die so oft wiederholt werden, bis alle glauben, sie seien die Wahrheit. Im gegenwärtigen Politikbetrieb der Deutschen und im Diskurs über denselben scheinen sie sich zu häufen. Greifen wir einige heraus.
Da ist die Aussage, unsere frisch gekürte Bundeskanzlerin Angela Merkel zeichne sich dadurch aus, dass sie eine gelernte Physikerin, also eine Naturwissenschaftlerin sei und in ihrem früheren Beruf trainiert habe, Vorgänge von deren Ende her zu denken. Auch ihre Strategien der mehrfachen Anläufe verrieten den Laborcharakter. Beides sei das Geheimnis ihres Karriere-Erfolgs.

Die das so leichthin sagen, haben von Naturwissenschaften offensichtlich keinerlei Ahnung. Vom Ende her, von einem zuvor feststehenden Ziel her denken zuweilen Konstrukteure. Naturwissenschaftliche Forscher wollen gewiss auch zu einem Resultat gelangen, doch dessen Beschaffenheit oder selbst dessen Existenz kennen sie vorher nicht. Resultate haben wollen viele andere gleichfalls, Geisteswissenschaftler zum Beispiel. Dass bei naturwissenschaftlicher Forschung das Ende zuvor schon feststehe, ist dummes Zeug. Gelegentlich kann freilich sein, dass apriorische Festlegungen im Nachhinein durch Erkenntnisse rechtfertigt oder begründet werden, aber dies pflegt in den Geisteswissenschaften häufiger stattzufinden als in den Naturwissenschaften. Die Liste der hierbei erzielten Irrtümer und Fehldeutungen ist übrigens lang.

Alle Wissenschaften kennen spezifische Methodologien und methodologische Moden. Die jüngste ihrer Art, von Naturwissenschaftlern gerne vertreten, ist die Systemtheorie. Sie stammt von Niklas Luhmann, der ein Geisteswissenschaftler war.

Das übliche und zumeist ergebnisoffene Laborverfahren in den Naturwissenschaften ist in der Tat das von try and error. Man prüft, ob eine Versuchsanordnung funktioniert oder nicht. Im zweiten Falle sucht man sich einen anderen Weg. Diese Strategie gibt es in der Politik seit langem. Die es besonders nachhaltig und leidenschaftlich betreiben, nannte man bisher nicht Naturwissenschaftler, sondern Opportunisten. Wer hinter einem Naturwissenschaftstudium ein besonderes politisches Vorgehen wittert, sei daran erinnert, dass auch Oskar Lafontaine ein gelernter Physiker ist. Von welchem Ende her sollte er wohl gedacht haben?

Frau Merkel ist in der Uckermark aufgewachsen, die einst zur DDR gehörte. Gleichfalls ein Brandenburger (und zudem Naturwissenschaftler) ist Matthias Platzeck, neuer Chef der SPD. Dass es zwei ehemalige DDR-Menschen sind, die heute die beiden großen Parteien anführen, hat politische Feuilletonisten zu den tollkühnsten Interpretationen getrieben.

Eine lautet, dies alles bedeute die überfällige Eroberung des Westens durch den Osten. Andere meinen, die Ostdeutschen hätten mit den Ereignissen von 1989/90 ihre Erfahrungen mit einer existentiellen Niederlage gemacht, was ihnen jetzt, da es in den beiden großen Volksparteien krisele und die gesamte Bundesrepublik sich in einer rundum schlechten Verfassung befinde, einen Erfahrungsvorsprung sichere.

Wenn gesagt wird, nunmehr hebe der Osten an, den Westen zu erobern, impliziert dies, zuvor habe der Westen den Osten erobert. Die historische Wahrheit ist, dass die alte DDR rundum pleite war und der damalige Westen die Funktion des Konkursverwalters übernahm. Konkursverwalter sind keine Altruisten. An den einkommenden Erlösen bedienen zuallererst sie sich selbst. Andererseits ist eine nicht ordentlich abgewickelte Pleite die vollkommene Katastrophe. Das Szenario ist auf die deutsch-deutschen Vorgänge Ende letzten Jahrhunderts im Verhältnis eins zu eins anzuwenden. Eroberung war das keine.

Welche persönlichen Erfahrungen ostdeutsche Politiker hierbei machten, ist von Biographie zu Biographie verschieden. Übrigens gab es auch bisher schon Ostdeutsche, die es bis in höchste Ränge der Bundespolitik schafften, darunter Versager, wie Günter Krause und Claudia Nolte, Zurückgeworfene, wie Markus Meckel und Rolf Schwanitz, mehr oder weniger erfolgreiche Selbstbehaupter, wie Manfred Stolpe und Wolfgang Thierse.

Für Angela Merkel waren wichtiger als ihre DDR-Sozialisation ihre acht Jahre Kabinettstätigkeit unter Helmut Kohl. Von ihm sah sie sich die erfolgreichen Techniken des Aussitzens, des produktiven Misstrauens und des kaltblütigen Ausschaltens innerparteilicher Gegner ab. Ihre West-Akkulturation ging so weit, dass der Erfinder ihrer politische Karriere, Lothar de Maizière, ihr heute bescheinigt, sie habe sich ebenso erfolgreich wie restlos alles Ostdeutsche ausgetrieben. Dafür spricht noch, dass sie jedenfalls in Ostdeutschland, ausweislich von Sympathiewerten und Wahlergebnissen, exakt so eingeschätzt wird.

Wie es der auf bundesdeutschen Parkett noch weitgehend unerprobte Platzeck künftig halten wird, muss man sehen. Die Geschwindigkeit, mit der er an die Spitze der demoskopisch ermittelten Beliebtheitsskala stürmte, ist lediglich geeignet, die bereits bei der letzten Bundeswahl begründeten Zweifel an der Demoskopie zu verstärken.

Die ostdeutsche Herkunft eines Spitzenpolitikers sagt über dessen Fähigkeiten und Pläne so viel und so wenig aus wie bei einem, der aus Bayern oder Ostfriesland stammt.

Wolfgang Schäuble, ältester Fahrensmann in der gegenwärtigen Bundesregierung, benannte die ostdeutschen Herkunft von Angela Merkel und Mattias Platzeck als das was sie tatsächlich ist: einen Zufall.


Rolf Schneider stammt aus Chemnitz. Er war Redakteur der kulturpolitischen Monatszeitschrift Aufbau in Berlin (Ost) und wurde dann freier Schriftsteller. Wegen 'groben Verstoßes gegen das Statut' wurde er im Juni 1979 aus dem DDR-Schriftstellerverband ausgeschlossen, nachdem er unter anderem zuvor mit elf Schriftstellerkollegen in einer Resolution gegen die Zwangsausbürgerung Wolf Biermanns protestiert hatte. Veröffentlichungen u. a. 'November', 'Volk ohne Trauer' und 'Die Sprache des Geldes'. Rolf Schneider schreibt gegenwärtig für eine Reihe angesehener Zeitungen und äußert sich insbesondere zu kultur- und gesellschaftspolitischen Themen.