Die Visite danach und davor

Von Blanka Weber · 15.04.2009
Über Bildung wird in Thüringen gerne gesprochen, vor allem in den Führungsetagen, erhält doch der Freistaat immer wieder gute Noten zugesprochen. Zumindest bis zur vierten Klasse. Bis dahin sei Thüringen Spitze, wettert die Opposition, danach nur noch Mittelmaß. Und dann ist da noch ein Problem: Begabte Schüler zu erkennen und fördern, ist sehr gut. Was aber ist mit den anderen?
Eine Schule, wie es viele gibt. Hohe graue Betonplatten außen, grell-bunte Fenster an der Seite.

Seit DDR-Zeit gehört der helle Flachbau zum Stadtteil. Nur, damals war es keine Regelschule und das Umfeld drum herum war auch nicht – wie es heute heißt - sozial schwierig:

Der Schuldirektor:

"Wir sind in einem typischen Plattenbaugebiet, dann kennt man die Zusammensetzung größtenteils. Es ist ein sozialer Brennpunkt. Vor Jahren haben wir noch darüber gesprochen – es könnte einer werden, es ist jetzt aber wirklich ein sozialer Brennpunkt."

Detlev Rommert, kurzes Haar, modische Brille, sitzt in seinem Büro. Am Rand ein Aquarium. Wer hier nicht hört, sagt er augenzwinkernd - muss daraus einen Schluck trinken.

Rommert kennt seine Schüler-Klientel:

"Wir kümmern uns um einzelne Schüler, die doch mal versuchen, hier Auszeiten zu nehmen. Aber – das ist nicht das ganz große Problem. Wir arbeiten daran, unseren Kindern grundsätzliche Werte und Normen beizubringen, diszipliniert zu sein, dass sie auch im späteren Leben mit anderen Menschen normal umgehen können."

Junge Menschen auf das Leben vorbereiten, nennt Detlef Rommert seinen Job. Schulverweigerer, selbst Kriminelle, Komplizierte junge Mütter und Alleingelassene gehören zu denen, die hier lernen sollen.

Hinzu kommen 25 Prozent Migranten. Eine ungewöhnlich hohe Zahl. Typisch jedoch für dieses Wohngebiet. Jeder zehnte Jugendliche ist hier übrigens arbeitslos.

"Wir wollen versuchen, dass Kinder die woanders nicht klarkommen, wo auch die Voraussetzungen – egal welcher Art – nicht stimmen, diese neun Jahre oder zehn Jahre Vollzeitschulpflicht bei uns erfüllen, so dass sie nicht vernachlässigt und weiterhin betreut werden."

Darum geht es: Keinen fallen lassen. Jeder soll die Prüfungen schaffen, keiner das Gefühl haben, er kann nichts, wird nicht gebraucht, allein gelassen – mit sich, seinen Problemen, Sorgen und Ängsten.

Und die Politik? Immerhin lagen die Thüringer Viertklässler bei der Lesestudie mit dem Titel "Iglu" im Bundesländervergleich ganz vorn und konnten sich selbst international mit ihren Leistungen auf Platz 2 – hinter Russland – behaupten. Dennoch:

"Wir wünschen uns ein anderes Bildungssystem."

Lautet knapp das Urteil der bildungspolitischen Sprecherin von der Partei "Die LINKE", Opposition im Thüringer Landtag. Michaele Sojka ist von Beruf Lehrerin, jetzt Berufspolitikerin.

"Es zeigt sich immer mehr, auch wenn die Studien dem Kultusminister Anlass zu seinen Jubeltiraden geben, es ist aber so, dass die IGLU- Studie zeigt, bis zum Ende der Klasse 4 sind wir Spitze und dann am Ende der Klasse 9 – bei den Pisa-Tests – zeigt sich, dass da nur noch Mittelmaß rauskommt."

Der Kultusminister des Landes, Bernward Müller, sieht keinen Grund zur Klage.
"Zunächst erst einmal dürfen wir, trotz dem Votum der Opposition feststellen, dass wir im deutschlandweiten Vergleich unter den ersten vier liegen, in einigen Fächern sogar den dritten Platz belegen, so dass wir auf jeden Fall gut abschneiden im deutschlandweiten Vergleich."

Also, alles in bester Ordnung? Man kann immer etwas besser machen, sagt auch Bernward Müller, der Minister.

Der Direktor der Regelschule aus Gotha kann sich durchaus Alternativen zum jetzigen System vorstellen, dass nach der Klasse 4 trennt:

"Wir reden viel von den Ländern, die bei PISA gut bestehen, wir reden von Finnland, reden von Schweden. Ich war in den Ländern. Ich hab mir dies angesehen. - Die Kinder bis zur neunten Klasse zusammen lernen zu lassen, hat sich bewährt."

Erst dann soll die Schere aufgehen: In Weitermachen, Beruf lernen oder Aussteigen aus dem Bildungssystem.

"Und wir sind uns einig, dass die frühe Trennung nach Klasse 4 einfach katastrophal ist. "

Sagt Michaele Sojka und das ist nur einer von vielen Punkten, den sie ändern würde. Soziale Gerechtigkeit ist das Stichwort. Gleiche Bedingungen für alle, um Bildungslücken zu schließen, bevor die Prüfungsängste entstehen.

"Jedes Kind hat das Recht, eine gleiche Startchance auch zu bekommen und dazu braucht man genau in diesem Bereich, also bei den Erziehern hochqualifizierte Leute, die in der Lage sind, diese Defizite schon vor Schuleintritt möglichst auszugleichen."

"Es ist ein Riesenproblem. Es fehlen in Thüringen 2000 Erzieher und wenn das nicht gelöst ist, dann wird auch die Qualität sich nicht verbessern und da müssen wir investieren. "

Das fordert der bildungspolitische Sprecher der SPD, Hans-Jürgen Döring. Auch er sieht die derzeitige Politik eher auf dem Holzweg:

"In den letzten Jahren sind über 200 Millionen Euro von der Landesregierung aus dem Bildungsbereich abgezweigt worden und zurück in den Haushalt geflossen. Wenn ich dieses Geld nehme, kann ich da schon erheblich mehr tun."

Zum Beispiel Bildung. Und zwar für diejenigen, die später "ausbilden" sollen.

Das Gutachten des Jenaer Sozialwissenschaftlers Opielka – übrigens im Auftrag des Thüringer Kultusministeriums – gibt der Opposition recht: Es fehlt Personal. Genauer gesagt, es fehlen als "erster Schritt" 500 Erzieherinnen im Kleinstkindbereich. Denn genau da kann kluge Bildung ansetzen. Es fehlt auch an Fort- und Weiterbildung und eine Hochschulausbildung für Erzieher.

Die SPD sieht es ebenso:

"Wir müssen viel mehr auch in die frühkindliche Bildung investieren. Das geht los mit der Qualität der Erzieherinnen. Wir werden nicht umhin kommen hier auch eine Hochschulausbildung anzubieten. Entscheidend ist auch, dass die Erzieherinnen auch Zeit haben, sich mit Erziehung zu befassen. Es gibt einen Thüringer Bildungsplan, der ist sehr gut aufgestellt."

In der Theorie, spotten Fachleute. Der gute Wille sei da. Doch was ist mit den Lehrern. Können sie alles, was neu ist, umsetzen? Michaele Sojka von der Linken:

"Sehr viele der Pädagogen fühlen die Verantwortung nach wie vor und stehen aber oft auch hilflos vor der Situation, es ist so, dass bis zu 60 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer Burnout-geschädigt sind – da muss Politik helfend eingreifen."

"Ja nun, diese 60 Prozent, diese Zahl kann ich so nicht bestätigen."

Wehrt der Kultusminister ab. Gleichwohl, die Verantwortung ist größer geworden – das sieht auch Bernward Müller so.

"Es ist sicherlich im Lehrerberuf , wie in jedem anderen Beruf auch, es gibt die Begeisterten und es gibt sicher Lehrerinnen und Lehrer, die Schwierigkeiten haben , wobei ich schon sehe, dass Schule über den Wissenserwerb hinaus in Erziehung und Kompetenzbildung in größere Verantwortung genommen wird. Wir sehen das ja gerade auch in den Diskussionen um Winnenden und auch mit dem Rückblick auf Erfurt. Also die Probleme, die sich auch oftmals im Vorschulischen Raum abspielen auch in Schule hinein ihre Wirkung haben. Das ist eine große Herausforderung."

Der sind sich die Lehrer durchaus bewusst. Rolf Busch, der Vorsitzende des Thüringer Lehrerverbandes, sieht deutliche Probleme im Schulalltag der Lehrer:

"Sie fühlen sich alleingelassen. Letztendlich erwartet die Gesellschaft von ihnen höhere Leistungen. Die ganzen internationalen Studien zeigen, dass es alles nicht so berühmt ist und der Vergleich innerhalb der Bundesrepublik ist manchmal auch der Vergleich Sehender unter den Blinden – insofern ist viel zu entwickeln. Wir brauchen Unterstützung, um mit den schwierigen Schülern klar zu kommen."

Doch nicht nur "schwierige Schüler" sind eine Herausforderung. Die Kinder von heute haben sich auch verändert, sprechen eine andere Alltagssprache, wollen verstanden werden.

"Jüngere Kollegen zwischen 30 und 40 Jahren sind bei uns wirklich Mangelware und wenn es dann so ist, dass die älteren Jahrgänge herauswachen und aus dem Dienst ausscheiden, dann werden wir in eine große Lücke reinstoßen."

Eine Befürchtung, die der Lehrerverbandschef Rolf Busch durchaus mit Politikern teilt.

Hans-Jürgen Döring von der SPD:

"Und hier werden in den nächsten Jahren fast 50 Prozent der Lehrer in den Ruhestand gehen. Und wir wissen bis heute noch nicht, wie wir damit umgehen. Die Landesregierung hat keine Konzepte. Das wird irgendwann in der Katastrophe enden, wenn wir jetzt nicht gegensteuern. Und das ist unser Ansatz."

Ein Ansatz, von dem sich die SPD im Wahlkampf bis zum Sommer die Gunst der Wähler und schließlich die Stimmen zur Landtagswahl Ende August verspricht. Bildung ist ganz oben auf der Agenda.

Genau wie bei der Partei "Die Linke". Michaele Sojka und ihre Mitstreiter fordern
200 junge Lehrkräfte - unbefristet einzustellen.

Der Kultusminister will Stück für Stück Platz schaffen:

"Wir haben ja gesagt, in dem kommenden Schuljahr 100 Einstellungen und dann sollen sich die Zahlen der Einstellungen weiter erhöhen. Das werden wir machen. Wir müssen sehen, dass wir auch die richtige Fächerkombinationen haben, die oft deutschlandweit gesucht werden."

Dass momentan Thüringer Absolventen günstig zu haben sind, hat sich rumgesprochen. Nachbarländer werben mit Plakaten, mehr Geld und besserem Status. Der Chef des Lehrerverbandes, Rolf Busch, kennt die Charme- und Werbeoffensiven. Manche Länder zahlten selbst die Umzugskosten für die jungen Absolventen.

"Letztes Jahr massiv Hessen, in diesem Jahr Baden Württemberg, die mit Plakataktionen in Thüringen die Lehrer abwerben und die dann mitunter fast aufgrund der Vollbeschäftigung und Verbeamtung doppeltes Gehalt bekommen."

Das massive Abwerben behagt niemandem, auch nicht dem Kultusminister. Doch was soll er tun, wenn für junge Lehrer jetzt noch kein Platz ist?

"Wir haben ein Modell entwickelt mit Baden-Württemberg, wo wir diesen jungen Lehrerinnen und Lehrern, die diesen Weg gehen, eine privilegierte Rückkehr ermöglichen."

Momentan ist aber nicht nur "Alt oder Jung?" das Thema in den Lehrerzimmern, sondern die Kluft zwischen denen, die Beamtenstatus haben und denen die ihn nicht haben.
Volles Gehalt – auch bei Teilzeit – das gibt es für die verbeamteten Lehrer. Das Land muss nachzahlen, entschied kürzlich ein Urteil. Das letzte Wort scheint hier noch nicht gesprochen.

Indes der Lehrerunmut – er geht weiter. Und die Politiker – die der Opposition – sind sich einig – ins Lehrerkollektiv gehören unbedingt künftig feste Sozialarbeiter.

"Wenn man jetzt nachfragt. Wie ist die Qualität der Schulsozialarbeit, sagt das Land: Ja, wir sind nicht mehr in der Verantwortung, da muss man die Schulträger fragen. Und das halte ich für falsch."

"An jeder Schule auch einen Sozialpädagogen, einen Schulsozialarbeiter vor Ort zu haben, das erscheint uns sehr wichtig. Die Zahl der Schulpsychologen zu verdoppeln, ist auch eine Sache, die aus meiner Sicht nicht besonders viel Geld koste würde."

Es ist eine der Forderungen der beiden bildungspolitischen Sprecher der Opposition.

Aus Sicht des Lehrerverbandes sollten die neuen Mitarbeiter zum festen Team gehören und nicht nur sporadisch Sprechstunden halten.

Doch bei allen Vorkehrungen, was ist mit denen, die nicht mal Essen mitbringen, wenn sie frühmorgens zur Schule gehen. Verlässliche Zahlen gibt es nicht, wohl aber erste Thüringer Tafeln, die Kindern Schulfrühstückstüten frühmorgens mit auf den Weg geben.

Michaele Sojka sieht auch hier die Politik in der Verantwortung:

"Es gibt tatsächlich den Fakt, dass Kinder ohne Frühstück zur Schule kommen. Das ist erschreckend, denn mit leerem Magen kann man sich gar nicht konzentrieren. Und ein warmes Mittagessen, und zwar kostenlos, das gehört eigentlich dazu. Und in anderen europäischen Ländern – nicht nur in Finnland – ist das so. Eine Kindergrundsicherung, die muss sein. Das Geld ist doch eigentlich da. Auch in Deutschland."

Das Land könnte Geld geben, die Kommunen stocken auf, so lautet die Rechnung. Und schon sei es möglich: Das Mittagessen für alle – übrigens egal, welcher Herkunft.

Denn es gibt ja auch noch diejenigen aus den sogenannten bildungsnahen Schichten.

Statt Regelschule gehen sie gezielt auf Gymnasien. Die meisten zumindest. Ihr Bildungsweg scheint weniger steinig und bietet mehr Chancen für Musik und Sport, Neigungen und Begabungen.

Doch – hochbegabte Kinder – sind überall zu finden.

Diese "Gaben" und Begabungen haben nichts mit der Herkunft – mit Bildungsnähe oder –ferne - zu tun, sagt Christina Möbius. Sie leitet in Jena einen Verein, der sich um besonders begabte Kinder kümmert.

"Dieser Irrglaube, zu sagen dass ein Kind, das hochbegabt ist automatisch alles können muss. Warum? Ich kann auf einem Gebiet zum Beispiel auf musischem Gebiet sehr begabt sein und trotzdem mit dem Lesen und Rechnen und Schreiben meine Schwierigkeiten haben."

Zwei bis drei Prozent der Bevölkerung gelten als hochbegabt, sagt die engagierte Mutter von drei Kindern.

Die Besten sollen unterreichten, ist ihr Credo. Die besten Pädagogen dürfen die Jüngsten unterrichten – das wäre ihr Wunsch:

"Denn die Basis wird bei den Jüngsten gelegt, die Begeisterung, der Spaß am Wissenserwerb, am Lerne, am lebenslangen Lernen wird da gelegt und wenn ich dort schon zeige, es macht Spaß, es ist Begeisterung, es ist lohnenswert, nie aufzuhören zu fragen, wie Einstein schon gesagt hat. Nie aufhören zu frage, dann ist es etwas wo wir einem Ideal schon sehr nahe sind – aber davon sind wir leider noch sehr weit entfernt."

Denn die Praxis sieht so aus, dass Grundschullehrer weniger umfangreich ausgebildet werden als die späteren Kollegen der Gymnasien und eben auch weniger verdienen. Ebenso die Erzieherinnen.

Christina Möbius kritisiert nicht nur die Schieflage im Ansehen, in der Bezahlung und in der Ausbildung, sondern auch das mangelnde Wissen im Umgang mit dem Entdecken von Talenten.

Mit Pädagogen, Wissenschaftlern, Psychologen, Eltern und Medizinern hat sie sich zusammengetan um das Netzwerk "Faszination Begabung" zu knüpfen, für diejenigen, die gerne als etwas "schräg" bezeichnet werden – vielleicht nur, weil keiner ihre Signale erkennt und Sprache versteht.

Fürs Lernen begeistern – das ist es – sagt Christina Möbius. Das ist der Schlüssel. Moderne Lerntechniken befassen sich längst mit den Lerntypen und der Frage: Wie lernt der jeweilige Mensch am leichtesten?

Die Wirtschaft ist später dankbar für das Potential kluger Köpfe. Egal, wo diese zu finden sind. Ob in den Camps für Hochbegabte, an den Gymnasien oder den – scheinbar – im Abseits stehenden Regelschulen. Selbst Autisten können Mathe-Asse sein, wie Detlef Rommert – Gothaer Schuldirektor mit dem Aquarium im Zimmer weiß:

"Ein Kind habe ich – das ist also Integration von Behinderten, das ist unser Autist. Er ist in der sechsten Klasse und er beschäftigt uns. Er kommt normal zur Schule, die Eltern arbeiten sehr gern mit uns zusammen. Er ist in Mathematik sehr gut. Er wird seinen Weg machen. Er war Dritter im Landeswettbewerb Mathematik."

Und er ist an der Schule nur ein Beispiel für Erfolg!

Fast jeder fünfte Schüler an der Regelschule in Gotha ist Ausländer. Klar gibt es Sprachprobleme, aber auch Vorteile. Der Matheunterricht wäre nur halb so schön ohne die russischen Schüler – sagt er – da seien echte Talente dabei.

Die Conrad Ekhof Schule wurde übrigens kürzlich ausgezeichnet, als "Starke Schule". Platz eins in Thüringen und damit Kandidat für den Bundeswettbewerb.